Erfahrungen & Vorhaben

Raum und Zeit (II)

Raum und Zeit, wo und wann. Koordinaten im Leben und auch des Schreibens. Am Beispiel von vier Erzählungen aus Blicke und Begegnungen (2020) habe ich weiter unten die Problematik und die für die jeweilige Geschichte gefundene „Lösung“ erläutert. Hier und jetzt rekonstruiere ich die Raum-Zeit-Frage anhand meiner beiden zuvor erschienenen Romane.

In meinem Erstling – Wolkenschieber oder Drei Sommer am Cap (2018) – wird von drei Sommerurlauben erzählt. Diese Wochen verbringen die vier Hauptfiguren (zwei Männer, zwei Frauen) mehr oder weniger gemeinsam in der Bretagne – 1977, 1992 und 2007. Was in den Jahren vorher bzw. zwischen den gemeinsamen Urlauben geschieht bzw. geschehen ist, wird in Form von inneren Monologen, Dialogen, Beschreibungen und expliziten Erinnerungen erzählt. Die Örtlichkeit Bretagne variiert nur geringfügig, doch die Varianten (Campingplatz, gemietetes Ferienhaus, eigenes stattliches Haus) sind von Bedeutung, sie reflektieren die berufliche Karriere und den sich verändernden sozialen Status und Horizont der Protagonisten. Hinzutretendes (und z.T. wieder verschwindendes) Personal untermalt und beschleunigt die Entwicklung der Hauptfiguren, die 1977 als Studierende „begannen“. Markant: Kleine Kinder werden Erwachsene, Nachbarn sterben, der kleine bretonische Ort hat sich verändert. Wandel und Häutungen betreffen selbstverständlich auch die Beziehung(en) der Vier untereinander und ihren Bezug zu den hinzukommenden Anderen. Die radikal veränderten Binnenkonstellationen und sozial-kulturellen Umgebungen schaffen ungeahnte neue Perspektiven.

Auch in meinem zweiten Roman – Das andere Land oder Siesta am Kanakenbunker (2019) – wird von einer (mehr oder minder) stabilen Figurengruppe berichtet, die diesmal jedoch rund ein Dutzend Männer und Frauen zählt. Auch deren Leben wird über einen längeren Zeitraum – von 1990 bis 2015 – begleitet.

Der zentrale Schauplatz bleibt auch hier derselbe: in diesem Fall der Frankfurter (Szene-)Stadtteil Bockenheim. Aber auch dieser und seine konkreten Örtlichkeiten sind in diesen 25 Jahren einem radikalen (sozialen, kulturellen, politischen, baulichen) Wandel unterworfen. Das „klassische alternative Milieu“ (zwischen Kurfürstenplatz und Hessenplatz) verändert sich. Und durch die Entwicklung einzelner Figuren (Neuankömmlinge, sozialer Aufstieg, Heranwachsen von Nachgeborenen) geraten auch andere Milieus und Örtlichkeiten – die Villengegend im Norden und Industriebrachen im Süden – in den Blick.

Die je konkrete Entwicklung der Romanfiguren verlangt gleichwohl, dass neben Frankfurt auch andere Schauplätze zeitweilig oder gar dauerhaft eine wichtige Rolle spielen: etwa Usedom und Swinemünde, Hamburg und das Mittelmeer, Lübeck und die Türkei, Berlin und Mallorca. Die alte „Bockenheimer Szene“ existiert nicht mehr.

Zum Zeitverlauf bleibt Ähnliches zu sagen wie im Fall der Wolkenschieber: es geht um eine relativ große Zeitspanne, die klar strukturiert ist und das Buch in drei Teile gliedert. Das Besondere besteht darin, dass der erste Teil eine einzige Woche im Jahr 1990 umfasst (nochmals untergliedert nach den sieben Wochentagen von Montag bis Sonntag). Die Jahre 1991 bis 2014 (zweiter Teil des Romans) überbrücke ich nicht durch einen fortlaufenden Erzählstrom, sondern durch Statements, Monologe, Flugblatttexte, Zeitungsmeldungen, Tagebuchnotizen usw., die den einzelnen Jahren zugeordnet sind. Auf diese Weise kommen die äußeren (welt- und innenpolitischen, ökonomischen und sozialen usw.) Veränderungen und die veränderten Lebensumstände einiger Figuren (familiär, beruflich, Umzug, Trennungen, Tod usw.) sowie deren „Innenentwicklung“ zur Sprache. Ja, es werden auf diese Weise auch neue Figuren eingeführt. Der dritte Teil umfasst demgegenüber wiederum ein „komplett erzähltes“ Jahr (2015), diesmal deutlich gegliedert in zwölf Monate. Die Romanfiguren treten dabei in den zwölf Kapiteln in wechselnder Besetzung auf. Die erzählte Geschichte endet in der Neujahrsnacht 2015/16 – an unterschiedlichen Schauplätzen.

Fundstück: Schreiben, warum?

Aber wozu schreibt man, wenn nicht dazu, Dinge hervorzuholen, und sei es nur ein einziges Ding, das sich allen psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen widersetzt, das sich weder aus einer vorgefassten Meinung noch aus einer Schlussfolgerung ergibt, sondern aus der Erzählung, etwas, das aus den aufgeschlagenen Falten der Erzählung zum Vorschein kommt und helfen kann zu verstehen – und zu ertragen –, was passiert und was man tut.

Annie Ernaux, Erinnerung eines Mädchens, Suhrkamp 2018)

Raum und Zeit (I)

Raum und Zeit, wo und wann. Eine alte fundamentale Frage der Philosophie. Es geht um Koordinaten im Leben und auch des Schreibens. Am Beispiel von vier Erzählungen aus Blicke und Begegnungen (2020) will ich die Problematik und die für die jeweilige Geschichte gefundene „Lösung“ kurz erläutern.

In Der Junge mit der Luftpumpe wird von einer nur wenige Minuten dauernden und von der Hauptfigur bruchstückhaft berichteten Erinnerung erzählt. Beide stehen im Mittelpunkt. Obwohl skizzenhaft ein Tal, ein nahes und ein entfernteres Dorf und eine Kreisstadt erwähnt werden, ist der zentrale Ort der Handlung ein einzelnes Zimmer, ja, noch nicht einmal das, nur ein Schaukelstuhl. Die kurze Geschichte findet ihren Höhepunkt in einer glücklichen Erinnerung, nachdem ein ganzes Leben erzählt wurde.

Nicht eins, sondern gleich zwei „ganze Leben“ schreitet Place de la Bastille, 17:30h ab. Die Erzählung, deren Handlung in einem vielleicht zweistündigen Abendessen in einem Hotelrestaurant in Perros-Guirec besteht, streift viele Orte und Regionen Frankreichs. Die titelgebende Orts- und Zeitangabe ist für die beiden Hauptfiguren von besonderer Bedeutung.

Ganz anders Der ergaunerte erste Kuss. Der Erzähler begleitet seine Hauptfigur über Jahrzehnte durch dessen Leben. Jede der insgesamt sieben Episoden hat ihren eigenen Ort. Und ihren besonderen Zeitpunkt, der einmal Minuten, ein anderes Mal einige Stunden ausmacht, oder dessen Dauer unbestimmt bleibt. Der Reiz der wechselvollen Geschichte besteht für mich darin, wieviel Lebenszeit (und Orte) hinter und wieviel vor der Figur liegen.

Vom Aufeinanderprallen von Lebensgeschichten handelt die Begegnung am Cap Fréhel. Die Handlung hat einen recht klaren zeitlichen Rahmen: ein Nachmittag und Abend. Der Ort ist ebenso deutlich umrissen: ein kleines bretonisches Hotel. Die Geschichte holt trotzdem weit aus, sie lebt von Zufälligkeiten und vom "doppelten Boden" bzw. der Duplizität der Ereignisse und Protagonisten.


Fundstück: Malerei und Literatur

(…) „Nein, Naumann, das ist Unfug. Englische Damen stehen nicht jedermann als Modell zu Diensten. Und die willst mit deiner Malerei zu viel ausdrücken. Du würdest nur ein besseres oder schlechteres Porträt mit Hintergrund malen, das jedem Connaisseur einen Grund gäbe, es schlecht oder gut zu finden. Und was ist schon das Porträt einer Frau? Deine Bilder und Plastiken sind letzten Endes armselige Dinge. Sie verstören die Vorstellungskraft und lullen sie ein, statt sie anzuregen. Die Sprache ist ein besseres Medium. (…) Die Sprache vermittelt ein vollständigeres Bild, dessen Vorzug seine Undeutlichkeit ist. Schließlich findet das wahre Sehen im Inneren statt, und Gemälde starren einen mit hartnäckiger Unvollkommenheit an. Das empfinde ich besonders bei Darstellungen von Frauen. Als wäre eine Frau nur eine angemalte Oberfläche! Bewegung und Klang müssen hinzukommen. Selbst das Atmen verändert sie von einem Augenblick zum nächsten.“(…)

(George Eliot, Middlemarch, Rowohlt 2019)

Fundstück: Gestern und heute

Es bedeutet eine enorme Anstrengung, einen alten Kameraden oder eine frühe Geliebte gleichzeitig mit den Augen und mit dem Gedächtnis zu betrachten, und niemand weiß um die Anstrengung besser als ein Romanschreiber ...

(Navid Kermani, Sozusagen Paris, Rowohlt 2018)

Fundstück: Utopie

Dichtung bewegt sich in einem nicht überprüfbaren Raum, sie stellt Fragen, sie reizt das Gemüt, richtet sich an die Emotionen. Sie kann das Große klein und das Kleine groß machen. Dichtung kann das ideologisch Utopische in das Komische, in das Groteske, ins widerständig Allgemeinmenschliche verschieben. Sie trägt in sich eine Gegenwelt. (...)

Politische Utopien zielen nicht auf eine dynamische Zukunft, vielmehr auf  eine stabile Endzeit, auf eine Konfliktlosigkeit, die im Quietismus mündet – im Ende der Geschichte. (...)

Die pathetischen Gedenkstätten des unbekannten Soldaten stehen für die Dystopie in der Geschichte. Der Tod der vielen, den der Namenlose anzeigt, muss durch  Reden,  Aufmärsche und Kranzniederlegungen verklärt werden. Die Utopie, der Nicht-Ort, aber fragt nach dem Sinn jedes Einzelnen. Und so behauptet der Friedhof – ein Paradoxon – die Verteidigung des Lebens gegen die Beliebigkeit.

(Uwe Timm, Der Verrückte in den Dünen  – Über Utopie und Literatur, Kiepenheuer & Witsch 2020)