März 2022

Meine Winterlektüre

Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum, Suhrkamp 2021. Der Roman der in Berlin lebenden Autorin war das letzte meiner in den Wintermonaten gelesenen Bücher. Hier führe ich Özdamars gut 750 Seiten schweres Werk als erstes an, aus einem simplen Grund: Ein Leseerlebnis, wie man es wohl nur alle fünf oder zehn Jahre hat. Fulminant, großartig, fesselnd.
Istanbul in den 1970ern und 1980er – mit seinen Intellektuellen und Künstlern, seinen putschenden Militärs und marodierenden Faschisten. Der Weg der Erzählerin führt (ein Katzensprung) in eine andere Welt und bis ins Heute: Lesbos, dann Berlin, Paris, später auch Brüssel, Bochum, Avignon, München, Frankfurt – mit all den Sonderheiten der Orte, Kulturszenen, Lebensumstände und Hoffnungen. Das Leben und der Roman Özdamars sind prallvoll: Lebenswille, Kreativität, Angst und Trauer. Liebe, Freundschaft. Wissbegier, Klugheit. Neue Hoffnung, verstorbene Gefährten. Unbekannte Exilanten und prominente Theaterleute. Sprachverlust und Sprachgewalt. Und immer wieder „die türkische Putzfrau“ – genial. Erzähltes, Dokumentiertes, Geträumtes – Zwiegespräche inmitten der Reichtümer der Kultur und Geschichte. Magisch.

Zeruya Shalev: Schicksal, Berlin Verlag 2021 (Original: Pelia, 2021; Übersetzung: Anne Birkenhauer). Die erzählte Geschichte ist einfach: Atara, um die Fünfzig, sucht nach dem Tod ihres Vaters dessen erste Frau. Über diese, Rachel, durfte in Ataras Kindheit nie gesprochen werden. Geheimnisse, Tabus.
Die Kontaktaufnahme der beiden Frauen gestaltet sich schwierig. Währenddessen erweitert Shalev ihr Personal und lüftet schrittweise den Schleier, wenngleich nur für die Leserin und den Leser. Für letztere wie mich: Eine immer spannende Erzählung, aus der man viel über das moderne Israel und dessen Entstehungsgeschichte erfährt. Über vergessene Freiheitskämpfer aus den 1930er und 1940er Jahren, über nie verheilte Wunden, über persönliche Schuld und persönliches Leid. Sehr zu empfehlen.

Édouard Louis: Changer: méthode, Èditions du Seuil 2021. Louis wie man ihn kennt. Um sich und seine Herkunft und die Loslösung von Familie und Milieu streichend. Diesmal ganz direkt den wichtigsten Schritten zugewandt, die den Autor aus der Tristesse der nordfranzösischen Provinz in die bürgerlichen Kreise der nahen „Großstadt“ Amiens und schließlich in die Cafés, Salons und Betten Pariser Geistesgrößen, Künstler und Superreichen führt. Mir sind seine sich wiederholenden Generalabrechnungen mittlerweile zu selbstverliebt. Doch wer sich für die Tücken des Erinnerns und für Wege autobiografischen Schreibens interessiert: empfehlenswert.

Hervé Le Tellier: Die Anomalie, Rowohlt 2021 (Original: L’Anomalie, 2020; Übersetzung: Romy und Jürgen Rütte). Von der Kritik gefeiert. Im März 2021 entkommt ein Überseeflug mit Mühe einem elektromagnetischen Wirbelsturm. Im Juni 2021 landet dasselbe Flugzeug mit denselben Passagieren erneut in New York. Als sei nichts geschehen. Jede und jeder bewegt sich in einem Doppelleben? März- und Juni-Passagiere begegnen sich selbst – von Geheimdiensten abgeschirmt und von Wissenschaftlern seziert. Eine fulminante (und wahrlich filmreife) Idee, die meine Ausdauer und den Lesegenuss überanstrengt hat. Viel Vergnügen.

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister – Eine kurze Geschichte vom Töten, S.Fischer Verlag 2021. Zugegeben: mein erster Ransmayr, vor dem ich immer Scheu hatte. Also für mich eine späte Entdeckung. Ein vielschichtiger Roman über das Wasser, die Globalisierung, die drohende Klimakatastrophe, über eine Geschwisterliebe und die verschüttete, verklärte und zweifelnde Erinnerung an einen Vater. Amüsant und verstörend, wortgewaltig. Keineswegs pathetisch, wie einige Kritiker meinen. Unbedingt lesenswert. Störfaktor: Am Ende wird’s überraschend süßlich.

 

März 2022

Fundstück: Eifersucht (I)

Gegen einige Sachverhalte war er hilflos: (…) gegen Dorotheas Charakter, der immer zu neuen unüberlegten Tätigkeiten neigte und selbst unterwürfig und schweigsam unbeirrbare Gründe für sich behielt, an die zu denken verärgernd war; gegen gewisse Vorstellungen und Vorlieben, die sich in ihrem Geist eingenistet hatten in Bezug auf Gegenstände, die er kaum mit ihr erörtern konnte. Es war nicht zu bestreiten, dass Dorothea eine so tugendhafte und liebreizende junge Dame war, wie er sie nur zur Ehefrau hätte gewinnen können; doch diese junge Dame zeigte sich um einiges ungebärdiger, als er es sich vorgestellt hätte.

George Eliot, Middlemarch, Rowohlt 2019

 

November 2021

Väter und Söhne

Ein Ausflug in der Schwäbischen Alb. Bov Bjerg schickt mit Serpentinen (Ullstein 2020) einen Vater und dessen kleinen Sohn auf die nicht nur kurvenreiche, sondern mit mehreren Generationen tragischer Familiengeschichte gepflasterte Strecke. Selbsttötungen des eigenen Vaters, Großvaters, Urgroßvaters sind Marksteine der Selbstvergewisserung des Ich-Erzählers, der selbst unter Depressionen leidet und dem Suizid die Stirn zu bieten versucht.

Das alles präsentiert Bjerg mal in düsteren Farben, mal in lockerem Ton. Mal bergauf oder bergab, gehend oder fahrend. Idyllische Landschaft, dunkle Erinnerungen. Tiefe Provinz als Schauplatz und deutsche Geschichte als Hintergrundfolie für die panische, verzweifelte und obsessive Suche nach der Wahrheit und ihren Untiefen.

Zum Glück ist das Kind ein quicklebendiges, wissbegieriges, ja manchmal freches. Der unwissende Sohn rettet den von Dämonen bedrängten Vater. Bjergs gelungene Komposition und der Rhythmus des Erzählten tragen dazu bei, dass die Lektüre das zwischendurch immer wieder bitter nötige „Luftholen“ ermöglicht.

 

September 2021

Die Suche nach den nahen Anderen und dem Ich

Drei recht unterschiedliche Bücher, die allesamt um die Fragen nach dem Woher, der Familie und eigenen Kindheit, dem Gewordensein von Konflikten, dauerhafter Elternliebe oder schmerzhafter Enttäuschung  kreisen. Drei Bücher, deren Lektüre ich empfehle.

Gert Loschütz' Ich-Erzähler sucht nach dem, was nur am Rande einer Fotografie zu sehen ist oder auf dieser sogar gänzlich fehlt. Die Eltern: Zweifellos Ein schönes Paar (Schöffling 2018). Der Vater, die Mutter, das Kind, eine kleine Familie. Er stößt auf Ungereimtheiten und Geheimnisse. Er lernt, die alt gewordenen Eltern mit anderen Augen zu sehen. Er rätselt, fragt, spekuliert. Wir, die Leserinnen und Leser, folgen  ihm und erfahren nebenbei viel über unser Land, seine Vorvergangenheit, seine Vergangenheit und das gestrige Heute. Weimar, Faschismus, DDR, BRD (alt), Schland.

Nahezu die gleichen Zeiträume – wenn auch im Österreichischen – bilden den historischen Hintergrund des autobiografischen Romans Vati (Hanser 2021) von Monika Helfer. Sie erzählt von ihrem Vater, kriegsversehrt, wissbegierig und Menschenfreund, von seiner Tochter geliebt.  Ein unbeschwerter Text, der die Schwere des Alltags der Großeltern und Eltern, die schillernden Eigenheiten der Herkunftsfamilien und die Gewalt der Vorarlberger Natur unprätentiös erzählt. Die Liebe zum Buch, zur Literatur, zum Lesen spielt durchgängig eine Rolle und liefert neben dem sozialhistorischen Blick auf die endvierziger und fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts reichlich Stoff für Helfers Panoramabild.

Auch Édouard Louis rückt seinen Vater in den Mittelpunkt – und stellt die Frage: Wer hat meinen Vater umgebracht (Fischer 2019; Original: Qui a tué mon père, 2018). Seine Antwort ist gewohnt wütend. Schließlich gehört Louis zu den französischen Autoren, die – via  Rekurs auf Familie, Bekanntenkreis und Wohnviertel – unter dem Verschwinden des traditionellen Arbeitermilieus leiden. Nicht zuletzt, wenn sich Protagonisten dieser Milieus zwanzig, dreißig Jahre später zu Anhängern oder Wählern rechter, nationalistischer, fremden- und selbstverständlich schwulenfeindlicher Politikerinnen und Parteien geworden sind. Und/oder eben entwurzelte, berufskranke, geschlagene und ungehörte, sich ausgeschlossen fühlende Alte sind. Alte Männer, mit denen zwei, drei Jahrzehnte zuvor Louis und Co.  die für Jugendliche und Abschied von Reims nehmende Bald-Studenten bittere Kämpfe ausgetragen haben. Kämpfe die vielfach erst heute rekapituliert, verstanden, auch bedauert werden. Auch Édouard Louis hat vor Jahren diesen Kampf geführt, gegen seinen stellvertretenden Vater, den er glaubt, erst heute zu verstehen. Auch diese Verspätung nährt die Wut, der Louis in diesem Text freien Lauf gibt. Die Wut wird bitter. Ja ziellos, auch wenn Adressaten – vor allem Präsidenten der Republik – benamt werden. Das hat Louis mit jüngeren Bewegunge wie den Gelbwesten gemein: Gegen die da oben, die Elite, Paris, die Politik wird scharf geschossen. Das Kapital, das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, die Profiteure bleiben ungeschoren.

 

März 2021

Fundstück: Nichtigkeiten

Es gibt Menschen, die sich unablässig in Streitigkeiten und Verwicklungen verstricken, in Dramen, für die kein Mitspieler bereitsteht. Ihre Gefühle reiben sich an Objekten, die nichtsahnend reglos bleiben.

George Eliot, Middlemarch, Rowohlt 2019

 

Januar 2021

Gleich zweimal: Im Gefängnis

Zwei Romane, zwei Männer, beide im Gefängnis. In den 1950er Jahren, am Ende der Nullerjahre unseres Jahrhunderts. In Algier, in Montreal. Verurteilt als Bombenleger, in Haft wegen Körperverletzung. Gestorben unter der Guillotine, entlassen nach zwei Jahren. Fernand Iveton, Paul Hansen. Es war reiner Zufall, dass ich auf die beiden Romane etwa zur selben Zeit aufmerksam geworden bin und sie dann kürzlich nacheinander gelesen habe. Eine bedrückende, anregende, aber auch vergnügliche Lektüre.

Joseph Andras erzählt in Die Wunden unserer Brüder (Carl Hanser Verlag 2017; Original: De nos frères blessés, 2016) von Fernand Iverton, einem jungen Algerienfranzosen, der (tatsächlich!) sich der entstehenden algerischen Befreiungsbewegung anschließt, im November 1956 einen Bombenanschlag (der keine Menschenopfer kosten soll und sowieso vor der Detonation auffliegt) plant, gefasst und verhaftet und drangsaliert und gefoltert wird. Im Februar 1957 rollt sein Kopf unter dem Fallbeil.

Jean-Paul Dubois berichtet von einem ebenfalls teils sehr dramatischen, wenngleich nicht tödlich endenden Lebensabschnitt. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise (dtv 2020; Original: Tous les hommes n’habitent pas le monde de la même façon, 2019) erzählt von Paul Hansen, einem Frankokanadier, geboren in Frankreich als Sohn einer Kino-verrückten Französin und eines protestantischen Pastors dänischer Herkunft.

Andras und Dubois inszenieren je auf ihre Weise ein Kammerspiel. Der Schauplatz: die Gefängniszelle. Die Erzählzeit: Mehr oder minder nur wenige Wochen. Doch die Geschichten erzählen von zwei ganzen Leben und mehr, von den Wurzeln der Familien, vom Träumen und Scheitern, von der – mir sehr nahegegangenen – Liebe der Protagonisten zu ihren Frauen Hélène (die aus einer polnischen Familie stammt) und Winona (einer Indianerin). Sie präsentieren „nebenbei“ noch skurrile und liebenswerte Nebenfiguren,

Die Romane berichten, warum ein junger Franzose, Arbeiter und Kommunist, sich dem Aufruhr der von der Kolonialmacht unterdrückten Einheimischen anschließt und dafür von Landsleuten bestialisch gequält und schließlich ermordet wird (die todbringende Unterschrift kommt vom Justizminister, dem wirklichen François Mitterand!). Sie berichten von einer verwirrenden Kindheit und Jugend und einem erfüllten Hausmeisterleben in einer Wohnanlage. Von Menschenliebe und Freundlichkeit. Von Würde, die der Folter widersteht, und von verletzter Würde, die sich in Schlägen und einem Biss zu retten versucht.  Sie erzählen unaufgeregt von zwei aufregenden Leben.

 

Dezember 2020

Zwischen Bonn und Bujumbura

Ich habe in den letzten Jahren keinen Roman gelesen, der mich dermaßen desillusioniert zurückgelassen hat wie die Schutzzone (Suhrkamp 2019) von Nora Bossong. Ein Roman, der mit seiner erzählten Geschichte und deren Konstruktion überzeugt. Ein Roman, der mich gefesselt und zu Lesepausen gezwungen hat. Ein Roman, der uns 30-Sekunden-Meldungen in den Tagesnachrichten anders sehen lässt. Ein Roman, den ich nicht laut genug empfehlen kann.

Im Mittelpunkt steht vordergründig Bossongs Ich-Erzählerin Mira. Eine UN-Mitarbeiterin im besten Alter, engagiert, gestresst, halbwegs zuversichtlich, erfahren, weltläufig, überfordert, frustriert und verloren. Eine von x UN-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern höheren, mittleren oder niederen Rangs, die in x Ländern unterwegs sind, um x Konflikte geringeren, mittleren oder höchsten (welt-)politischen Gewichts zu lösen. Was vorrangig bedeutet, den Konflikt zwischen x Aktendeckeln zu dokumentieren, zu analysieren, ihm Form und einen Namen zu geben, mit Zahlen zu erfassen … usw. usf. Im Hauptquartier in New York oder im verstaubten, leblosen Genf. Oder auch an der Bar eines abgeschotteten Hotels zwischen den Fronten, irgendwo auf der Welt, zusammen mit anderen Konfliktlösern und Wahrheitskommissären. Auch in einem Zelt in Ostafrika.

Nora Bossong beschreibt das Tagwerk der Ich-Erzählerin schnörkellos, sachlich, ja distanziert. Die zahlreichen Zeitebenen machen den Einstieg nicht leicht, aber geben der Lektüre später Struktur. Sie verhindern, dass man Mira zu nahekommt. Doch man ahnt und findet vergebliches Bemühen, aufkommende Erwartungen, schmerzliche Betroffenheit, in den Anforderungen des Auftrags und in der Routine des Ewiggleichen versickernde Illusionen. Gut und Böse verschwimmen. Nicht nur an den Verhandlungstischen, unter den Kontrahenten. Nicht einmal Mira selbst, ihre Vorgesetzten und ihr Arbeitgeber lassen sich den Guten zuschlagen. Schließlich geht es hier zwar auch mal um den Streit um kleinste Inseln im Nordmeer (die kein Mensch kennt) oder um die mittlerweile bereits ein halbes Jahrhundert alte „Zypernfrage“. Nein, zwischen den beiden Buchdeckeln der Schutzzone geht es auch um größere Kaliber. Nämlich um Bürgerkriege, ja um Völkermord, um Kongo, Burundi, Ruanda. Und schon werden wir mit Zeitläufen und Herrschaftsverhältnissen konfrontiert, die in unseren Augen bereits Geschichte sind … und sogar in Geschichtsbüchern Erwähnung finden.

Bossong erzählt eine zweite fragmentarische Geschichte, die viel Raum einnimmt. Mira erinnert sich immer wieder ihrer Kindheit, weil Milan, heute ihr kurzzeitiger Liebhaber (ebenfalls UN-geschädigter Goodwill-Emissär), damals, vor dreißig Jahren, so etwas wie ihr „großer Bruder“ gewesen war. Und dessen Vater war …, klar, bei oder für die UN tätig … nicht irgendwo, sondern in Ruanda. Mira versteht heute dessen damals periodische An- und Abwesenheit, die ihr früher rätselhaften Seelenzustände von Milans Mutter und auch Milan selbst. Mira hat mittlerweile selbst genug Demütigung, Elend, Entwurzelung, Folter, Vergewaltigung und Mord zwischen zwei Aktendeckeln festgehalten und entsorgt.

Alles steuert daraufhin, dass Mira der UN adieu sagt. Als Leser wäre ich auch diesen letzten Schritt mit ihr gegangen. Sehr gern sogar. Doch Mira entscheidet sich am Ende für eine neue Mission, zwar gegen Mossul, doch für Amman.

 

Dezember 2020

Kurztipp: Peter Stamm

Ich mag Peter Stamm. Seine knappen, schnörkellosen Sätze. Seinen Blick für das Banale und sein Gespür für das Unentdeckte. Seine Figuren, die einem – wenn man seine Erzählungen oder Romane zur Seite legt –  in der Kantine, im Bus oder im Wartezimmer begegnen.

Wenn es dunkel wird (S.Fischer 2020) versammelt elf Geschichten, die von lautlos daherkommenden Wendepunkten erzählen. Von banalen Momenten, von Überraschungen, von erhebenden und niederschmetternden Gefühlen. Normalität, die an Abgründen endet oder zum Höhenflug verführt.

Die drei Erzählungen, die mir am besten gefallen: Supermond – Ein fleißiger und zuverlässiger Angestellter erfährt durch eine sich schließende Aufzugtür und weitere Alltäglichkeiten, dass seine Tätigkeit und er selbst überflüssig geworden sind. Sabrina, 2019 – Eine junge Frau steht Modell und wähnt sich in höheren Sphären; die Galerieszene schätzt das blecherne Kunstwerk mehr als den Menschen aus Fleisch und Blut; ja, auch Sabrina möchte lieber ihr Abbild sein als sie selbst. Die titelgebende Erzählung Wenn es dunkel wird geht noch weiter, legt Figuren und Zeiten übereinander und spielt bis zum Äußersten mit Rätselhaftem.

Die von der Kritik hochgelobten Geschichten Der erste Schnee und Schiffbruch finden meine Begeisterung in diesem Ausmaß nicht. Sogar regelrecht enttäuscht hat mich das triviale Ende der vielversprechenden Erzählung Das schönste Kleid.

 

April 2020

Ein Stück Weltliteratur

Dieser Text ist keine Rezension. Ich sehe mich außerstande, dieses rund 1200 Seiten dicke Werk angemessen zu besprechen, die Hauptstränge der Handlung, die wichtigsten Figuren und deren Beziehungen, dazu das ganze Drumherum (Landschaft, Ansiedlungen, Gewerke, Gebräuche, Ideen und Illusionen usw.) vorzustellen und zu beschreiben.

Das in den 1830er Jahren in einem fiktiven mittelenglischen Ort namens Middlemarch und in den diesen umgebenden Weilern und Herrenhäusern sich abspielende Geschehen ist so vielfältig, doppelbödig, träge und dynamisch, tradiert und vorwärtstreibend, dass es bereits schwerfällt, „das Wichtigste“ nachzuerzählen. Auch die Überlegung, herausragende Gedanken und Wortwechsel der Protagonisten oder prägnante Kommentare und Charakterisierungen seitens des Erzählers bzw. der Erzählerin hier quasi als Appetitmacher zu zitieren, würde scheitern. Es sind zu viele …, zu viele kluge, erhellende, amüsante und bissige Auslassungen.

Geschrieben wurde Middlemarch ab 1869, erstmals veröffentlich (als damals durchaus übliche Fortsetzungsgeschichte) 1871/72. Die einbändige gebundene Ausgabe erschien kurz darauf, ebenso eine korrigierte Ausgabe 1874. Der Roman – „Eine Studie über das Leben in der Provinz“, so der Untertitel – war ein Verkaufsschlager und wurde bereits damals ins Deutsche übersetzt. Die jetzt vorliegende, von vielen Kritikern hochgelobte Neuübersetzung – 2019 erschienen bei Rowohlt – verantwortet Melanie Walz, deren auch in dieser Hinsicht instruktives Nachwort ich unbedingt zur Lektüre empfehle.

Die Wissenschaft bricht sich Bahn, in der Medizin, in der Agrarökonomie und anderswo. Die Politik gerät in schwierige Gewässer, Reformen sind notwendig, mancher sieht seine Privilegien bedroht. Neu gegen Alt – ausgetragen auf dem Feld dazwischen. Religionsfragen und die Neuordnung der Wahlbezirke füllen die Titelseiten. Die Eisenbahn ist nicht mehr aufzuhalten, die Pächter und Landarbeiter sollen von besseren Wohn- und Dienstverhältnissen profitieren. Landadel, Bürgertum, Kirchenmänner, politische Honoratioren, Egozentriker und unentschiedene Lebenskünstler treffen aufeinander. Mutige Frauen, selbstbewusst, am eigenen sozialen Aufstieg oder an der Wohlfahrt aller interessiert, müssen in Ehen einwilligen oder suchen diese, obwohl das Scheitern vorhersehbar ist. Pflicht und Liebe, Wissensdurst und Nachsicht, Treue und Abenteuerlust. Dorothea Brooke und Rosamond Vincy, auch Mary Garth, drängen sich mir als Lieblingsfiguren auf (von der Autorin durchaus unterschiedlich „geschätzt“). Der ewig schwurbelnde Mister Brooke, der verbohrte und lebensfremde Mister Causobon, der von seiner Vergangenheit eingeholte Mister Bulstrode, der unbeugsame Mister Garth, der überaus sympathische Pfarrer Farebrother – ein Panoptikum von Heuchelei und Zukunftsglauben, von Ehrlichkeit, unausweichlichem Scheitern und ewigen Stehsätzen. „Die Jugend“ verkörpern Tertius Lydgate, Fred Vincy und Will Ladislaw. Sie haben keine oder illusorische oder unausgegorene Lebensziele, schwenken um, verschulden und verlieben sich (auch mal in die falsche Frau), suchen die Flucht nach London oder finden sich mit den Gegebenheiten ab.

George Eliot (= Mary Ann Evans, 1819-1880) beherrscht die Kunst, dem Großen und Ganzen durch „Nebensächliches“ seine Form und sein Tempo zu verleihen. Durch die Beschreibung von Kleidung und Etikette, durch Ausflüge in das politische Leben und den Fortschritt der Wissenschaften, durch „running gags“ und einen sowieso erstaunlich freizügigen und schwarzen Humor. Und Eliot ist eine Autorin, die ihren Erzähler bzw. ihre Erzählerin überraschend oft und direkt das Wort überlässt. Diese kommentierenden Auslassungen, die auch immer wieder Distanz zu Figuren ermöglichen und das Erzähltempo verschärfen, betreffen nicht zufällig vor allem die Rolle der Frau(en), die tradierten Erwartungen der Männer (und „der Gesellschaft“), die Fesseln der Ehe und die Unwägbarkeiten der Liebe. Sie haben mich begeistert. Eine Fundgrube tiefsinniger, wahrer und witziger Bemerkungen … einhundertfünfzig Jahre alt. Fantastisch. Weltliteratur in 86 Kapiteln, nebst Präludium und Finale. Frühe Frauenliteratur, ein sehr unterhaltsamer Gesellschaftsroman. Unbedingt lesen!

 

 

November 2021

Fundstück: Elternliebe

Sie schweigen einen Moment; es ist und bleibt ein Schock. Ihr Sohn, ihr einziges Kind, verheiratet. Er ist achtunddreißig; sie hatten sich doch ziemlich an ihn gewöhnt.

Elizabeth Strout: Mit Blick aufs Meer, btb 2012 (Original: Olive Kitteridge, 2008)

 

Januar 2021

Fundstück: Einsamkeit der Witwen

(…) sagte Bunny, deren Mann noch am Leben war. Ein Mann, über den sie sich den Großteil ihrer Ehe schwarzgeärgert hatte, der ständig an der Erziehung ihrer Tochter herumnörgelte, der sich mit Baseballmütze zum Essen setzte – er hatte Bunny wahnsinnig gemacht. Aber jetzt erschien es wie ein Sechser im Lotto, denn er lebte noch, und Bunny sah es ja reihenweise bei ihren Freundinnen, wie es war, seinen Mann zu verlieren und dann zu ertrinken in Einsamkeit. Olive hatte sogar manchmal den Eindruck, dass Bunny ihr aus dem Weg ging – als wäre Olives Witwentum eine ansteckende Krankheit.

Elizabeth Strout: Mit Blick aufs Meer, btb 2012 (Original: Olive Kitteridge, 2008)

 

Januar 2021

Fundstück: Verläassliches Eheleben

Im Flur hörte ich Milan leise mit Teresa reden, kein Ton des Streits, aber auch keiner des Begehrens oder der Aufgeregtheit, was hatte ich erwartet, sie lebten seit Jahren zusammen, es waren die Verlässlichkeiten, nicht die Überraschungen, die sie aneinanderbanden, all das, was funktionierte, und hätten sie einen Skilift in ihrer Wohnung und eine Aalzucht im Bad gehabt, hätten auch die funktioniert.…

Nora Bossong, Schutzzone, Suhrkamp 2019

 

März 2021

Seltsame Normalitäten und die Frage der Schuld

Claudia Piñeiro bietet mit Wer nicht? (Unionsverlag 2020; Original: Quién no, 2018) ein breites Spektrum sehr kurzer und längerer Geschichten. Abrupte Wendungen, offene Fragen, jähe Entscheidungen, dramatische Verläufe. Es fließt Blut, es fließen Tränen. Sonnige Tage, dunkle Geheimnisse, bitteres Eingeständnis. Die sechzehn sehr unterschiedlichen Erzählungen hinterlassen von Fall zu Fall ein Schmunzeln, Erstaunen, Beklemmung. Mancher Text der Autorin, deren Protagonisten überwiegend der Mittelschicht des modernen Argentinien entstammen, kommt daher wie eine Skizze, andere sind dicht, auserzählt, benötigen kein weiteres Wort. Seltsame Normalität(en) auch in der Form.

Nahezu klassischer Stoff: Der plötzliche Tod eines Mannes, der ein Doppelleben geführt hat (Zwei Koffer), oder der Zufall, der zwei von ihren Ehen bzw. Familien überforderte Männer gerade jetzt und hier zusammenführt (Bei Papa). Scheinbar pädagogisch und damit – so die Befürchtung – langweilig: Mariano Obornos Mutter; doch Piñeiro konfrontiert einen Jungen mit zweierlei: Mit dem Aufruhr, den sein unbedachtes "Hurensohn" gegenüber einem Kameraden verursacht, und mit der leibhaftigen Begegnung mit dessen Mutter, die ihm als schöne Hure gegenübertritt. Eine ebenfalls sehr überraschende Wendung nimmt die Erzählung Kurzzeitvermietung, in der Schmerzensschreie anderen Ursprungs sind als vermutet. Opfer und Täter, Kinderaugen und Terror. Um Schuld, Schuldgefühle und die Erlösung davon geht es in Blaue Augen hinter der Gardine – meine Lieblingsgeschichte in  diesem empfehlenswerten Band der argentinischen Autorin.

Deutlich weniger Überraschungen bietet der jüngste Band von Bernhard Schlink. Gewohnt routiniert erzählt er in Abschiedsfarben (Diogenes 2020) von Schuld und Vergangenheit, von zurückliegenden Lebensjahren alt gewordener Männer. Schlink hat bekanntermaßen keine Scheu, sich eingeübter Klischees zu bedienen (nicht zuletzt hinsichtlich der Frauenfiguren), er erzählt unangestrengt, seine Geschichten kommen – trotz mancher dramatischen Verfehlung oder Erlebnisse seines Personals  –  allesamt ruhig daher. Sie sind leicht zu lesen, bereiten überwiegend  Lesevergnügen.

Unter den neun Geschichten ragen für mich drei heraus. Ein DDR-Wissenschaftler verrät seinen Freund, um dessen Karriere und Lebensglück sowie den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu befördern (Künstliche Intelligenz). Die Urlaubswochen eines Heranwachsenden mit seiner Mutter (Der Sommer auf der Insel) bringen dem Elfjährigen nicht nur erste Fummeleien mit etwa gleichaltrigen Mädchen, sondern auch die (schockierende) Erfahrung, dass die Mutter als begehrenswerte Frau (und nicht nur als geschlechtsloses Wesen) wahrgenommen wird und lebt. Schließlich Geschwistermusik, eine mehrfach komplizierte Dreiecksbeziehung in Jugendjahren, die nach Jahrzehnten von Susanne und Philip verschieden erzählt und beendet wird.

 

Dezember 2020

Elizabeth Strout: Provinzielles aus Maine und New York

USA. Ostküste. Maine. Irgendwo im Nirgendwo. Eine Kleinstadt. Ein Haus. Ein Familiendrama. Ein Roman, in dem drei (schon sehr erwachsene) Geschwister – zwei Brüder, eine Schwester –, ein Schweinskopf in einer Moschee, Immigranten aus Somalia, Bürger und Amtspersonen, Gesinnungen und Sitten … und und und … eine Rolle spielen. Dazu der viele Jahre zurückliegende Unfalltod des Vaters der drei Geschwister,

zwei nicht ins provinzielle Tableau passende, nicht passen wollende Frauen (eine hat viel Geld, die zweite setzt auf andere Reize). Ein Bubenstreich, ja oder nein? Afrikaner, die US-Bürger und, viel gravierender, US-Amerikaner werden wollen oder sollen. Ein weiser Mann, der geschäftlich erfolgreich ist, aber viel lieber wieder nach Somalia, notfalls auch in ein Nachbarland am Horn zurückkehren würde, weil vieles ihm das Leben in Shirley Falls sehr schwer macht, Alltägliches, Banales, das nie für Schlagzeilen sorgen wird.

Elizabeth Strout erzählt vom Leben in der provinziellen Enge Maines, öde, langweilig, festgefahren – irgendwo zwischen dem Meer und Kanada. Sie erzählt von Jim, Bob und Susan. Eigentlich von Jim, dem durch einen spektakulären Fall berühmt gewordenen und zuhause gefeierten Anwalt, der jetzt in einer Wirtschaftskanzlei nur noch viel Geld verdient. Eigentlich von Bob, der ebenfalls in Brooklyn lebt, bescheidener, beziehungsloser, eben nur der zweite Junge, dessen gesamtes Leben von einem traumatischen Kindheitserlebnis bestimmt wird. Eigentlich von Susan, zuhause in Maine geblieben, früher die ungeliebte Tochter, heute Mutter eines Neunzehnjährigen, der mit dem erwähnten Schweinskopf Unfug treibt … und die Vordergrund-Geschichte, die Strout erzählt, ins Rollen bringt. Daneben spielt Zach keine Rolle, er schließt sich in sein Zimmer ein, ist sprachlos, sitzt kurz in U-Haft, verschwindet zu seinem Vater nach Europa, kehrt auf den letzten Seiten zurück.

Der Schweinskopf-Skandal – Streich, Ordnungswidrigkeit, rassistisch motiviertes Verbrechen? – legt alte Wunden offen, verursacht immer wieder neue Verletzungen. Die eigentliche Geschichte erzählt von Geschwisterliebe, Hochmut und Hass, Demütigungen, Hoffnungen, Sehnsüchten und mürbe machenden 24-Stunden-Tagen. All dies zur Zeit der aufkommenden Finanzkrise 2007/2008 (was unwesentlich ist).

Elizabeth Strout – bei uns eher bekannt durch ihre ebenfalls in Maine angesiedelten Episoden rund um Olive Kitteridge – ist eine fulminante Erzählerin. Scharfsinnig und amüsant, ihre Figuren und deren Leben sezierend. Das Große findet sie im Kleinen. Sie packt es diesmal auf den Küchentisch in Shirley Falls. Am Ende für meinen Geschmack mit einer Prise zu viel … (aber das verrate ich hier nicht!).

Meine Herbst-Entdeckung. Für den Winter sehr zu empfehlen.

Elizabeth Strout: Das Leben natürlich, btb 2014, Original: The Burgess Boys, 2013

 

Mai 2020

Der neue Schulze: Leselust am Abgrund

Ingo Schulze enttäuscht nicht, vor allem nicht die, die sich zu seinen Gern-Lesern zählen. Also auch mich. Wieder spielt Schulze mit den Erwartungen seiner Leser. Er überrascht sie, wie zu erwarten. Er wechselt die Perspektiven, bringt verschiedene Erzähler ins Spiel. Und er erzählt eine schöne Geschichte, die auch böse sein kann und vermeintlich über Böses berichtet: Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020).

Ein Buchfanatiker, ein leidenschaftlicher Leser, ein Antiquar – das ist Norbert Paulini. Sachse von Geburt (Jahrgang 1953), passionierter Dresdner, am Ende heimisch in der Sächsischen Schweiz. Ein Mann mit DDR-Biografie. Ein mir, offen gesagt, sehr sympathischer Mensch. Er, der einen ansehnlichen Buchbestand von seiner sehr früh verstorbenen Mutter „geerbt“ hat, fährt ab 1977 mit einem Handkarren durch die Stadt und kauft rare Exemplare und ganze Buchbestände auf. Er verkauft auch, will aber kein Buchhändler sein. Sein Antiquariat wächst und wächst, Bücher fressen Wohnraum. Paulini ist zuallererst Leser.

Wir erfahren, welche Bücher (philosophische, naturwissenschaftliche oder belletristische) – egal aus welcher Zeit, egal aus welchem Land (Paulini konzentriert sich jedoch auf die deutschen Literaturen) – gefragt und/oder vergriffen, geheime Schätze und/oder Bestseller waren. Vieles kannte ich nicht, manches wusste ich nicht. Wir lernen am Rande auch den Volksbuchhandel und im Zentrum der Geschichte die Dresdner Bürgerlichkeit, die sozialistische und die post-sozialistische Bohème, nicht zuletzt viele Frauen kennen. Und wir freuen uns über zahlreiche Schnurren, über Lesungen, Salon-Akademiker, gutes Geschirr und den Weißen Hirsch.

Und dann kommt Teil II, was uns daran erinnert, dass wir uns bislang in Teil I bewegt haben, der sehr abrupt, buchstäblich mitten im Satz abbricht. Dieser erste Teil des Romans, in dem der Antiquar die Hauptfigur gibt, wird – was uns beim Lesen etwas irritiert und damit „vorgewarnt“ hat – von einem Unbekannten erzählt. Dieser anonyme Erzähler taucht nur in wenigen Momenten als „ich“ oder via „mir“ und „mein“ auf. In Teil II wird aus diesem Ich der Schriftsteller Schultze (wohlgemerkt, der mit „tz“), der nun neben den Antiquar in den Mittelpunkt der Erzählung rückt. Schultze, etwa in den 60ern geboren und immer mehr Berliner denn Dresdner, schreibt an einem Paulini-Text, wie er uns wissen lässt. Schultze liebt Lisa, eine langjährige Gehilfin und Geliebte Paulinis. Dieser hat einen mittlerweile heranwachsenden Sohn mit der Haarschneidefachfrau Viola, die sich von ihm trennt und die vor 1990 manches Wissen an entsprechende Stellen weitergab. Norbert Paulini wird immer eigener, kommt mit seinem Buchbestand immer weniger ins Reine, wird jetzt zusätzlich mit den Widrigkeiten im ein(ig)en Deutschland konfrontiert. Wessis wollen ihn über den Tisch ziehen, haben den längeren Atem und mehr Zeit.

Schulze gelingt es, dass der Antiquar und Bücherwurm mir „trotzdem“ immer unsympathischer wird. Schultze bleibt dagegen vergleichsweise blass, gehört einer anderen Generation an, birgt bis dahin keine Fallhöhe und Abgründe. Ein Schreiberling halt, der mehr mit sich als mit den Umständen hadert.

Teil II (84 Seiten) ist kürzer als Teil I (187 Seiten). Teil III ist noch knapper (34 Seiten). Dieses Ende der Geschichte wird erzählt von einer namenlosen Frau, der Lektorin Schultzes, aus München angereist. Diese macht sich aus einem sehr konkreten Anlass (den ich hier nicht verraten will) auf ins Elbsandsteingebirge. Auf den Spuren von Paulini, Lisa und Schultze.

Schulzes Roman endet mit einem aufschlussreichen Gespräch, das die Lektorin mit dem Nachfolger/Sachwalter Paulinis führt. Ein Gespräch über Wahrheit und Literatur, Realität und Schein, Charakter und Wahrhaftigkeit. Gesprächspartner ist Juso Podzan Livnjak, eine Romanfigur, die Ingo Schulze von Dzevad Karahasan „geklaut“ hat. Nach eigenem Bekunden. Schulzes letzte Volte in diesem amüsanten Roman.

Tipp: Empfehlenswert.

 

Oktober 2020

Fundstück: Spiel mit der Hoffnung

Dieser Augenblick aber wird in meinem Gedächtnis haften, unversehens aufscheinen, ein fliehendes Bild, etwas, das er als Vorstellung, als Möglichkeit, vielleicht auch als Versprechen in sich trägt. Immer wieder werde ich durch seinen schweren, mühsamen Gang hindurch die leichten, geschmeidigen Schritte von früher erkennen, als wären sie nicht für immer untergegangen, sondern nur eine Weile verborgen. Irgendwann wird er die Therapien meiden, die ihm angetragen werden, weil sie ein Spiel mit der Hoffnung treiben, das er nicht jedes Mal verlieren will.

(Ulrike Edschmid: Ein Mann, der fällt, Suhrkamp 2017)

 

Oktober 2020

Fundstück: Das sehende Auge

Nein, nie kehrten wir an irgendeinen Ort zurück. Nicht nach Heidelberg, nicht nach Hameln, nicht nach Verona, nicht nach Montmajor – nicht einmal nach Carcassonne. Natürlich hatten wir davon gesprochen, aber ich glaube Florence holte sich alles, was sie wollte, mit einem Blick. Sie hatte das sehende Auge. (...) Ich habe es, unglücklicherweise, nicht, so dass die Erde für mich mit Orten übersät ist, an die ich zurückkehren möchte…

(Ford Maddox Ford: Die allertraurigste Geschichte, Diogenes 2018 (Original: The Good Soldier / The Saddest Story, 1915))

 

Juli 2020

Kurztipp: Effingers

Zwei deutsche Familien. In Berlin und in der süd(west)deutschen Provinz. Großbanker und Uhrmacher. Miteinander verschwägert. Zwischen den 1870ern und 1940ern. Preußentum und Fortschrittsglaube. Belesenheit und Buchhaltung. Innovation und Zaudern. Ingenieurkunst und Kapitalismus. Würde und Verrat. Tradition und Avantgardismus. Patriarchen und Frauenbewegte. Soziales Gewissen und Kriegsgewinnler. Militaristen und Radikale. Alt-1848er und Hitlersympathisanten. Nationalisten und Pazifisten. Weltbürger und Kleingeister …

Das Drama: Es sind zwei jüdische Familien, in denen sich all das versammelt, entwickelt, verzweigt und hält. Es sind Gläubige und Nichtgläubige, Junge und Alte, Männer und Frauen, Glückliche und Unglückliche, Optimisten und Pessimisten, Erfolgreiche und Verlierer, Verliebte und Ungeliebte, Tatkräftige und Zweifler …

Eine monumentale, lehrreiche, lebendig und in 151 Kapiteln (plus Epilog) lesefreundlich erzählte Familiengeschichte. Ein Roman über deutsches Judentum und jüdische Deutsche.

Unbedingt zu empfehlen.

Gabriele Tergit: Effingers, Schöffling & Co. 2019 (Erstausgabe: Hammerich & Lesser 1951)

 

Juni 2020

Wortgewaltige Langeweile

Ein Roman über Worte, deren Herkunft und Wirkung. Ein Buch, das sich des Übersetzens und vieler Sprachen annimmt. Ein Buch, das elementare Erlebnisse (Tod der Geliebten, Fehldiagnose in eigener Sache) als solche erzählt. Außergewöhnliche Figuren in einer außergewöhnlichen Geschichte? Fehlanzeige! Eben der neue Roman von Pascal Mercier. Wer den Zug nach Lissabon mit Mühe zu Ende gelesen hat, wer Lena abgebrochen hat, sollte nicht zu Das Gewicht der Worte (Hanser 2020) greifen. Er oder sie würde sich bestätigt sehen. Mit Recht.

Ein Wort gibt das andere. Aus immer gleichem Mund, auch wenn dieser verschiedenen – und sich dann doch wieder sehr ähnelnden – Figuren geliehen wird. Die Geschichte: Ein Jüngling, Simon Leyland, entdeckt im Londoner Haus des Onkels eine Mittelmeerkarte. Er ist fasziniert und will alle Sprachen der Anrainerländer lernen. Er tut dies und schafft es beinahe. In verschlägt es der Liebe wegen in den neu entdeckten Vielvölker-Hotspot Triest. Seine Livia stirbt jedoch früh. Was Leyland, mittlerweile natürlich sehr erwachsen und sehr sehr gebildet, erspart bleibt, denn die seinen Tod ankündigenden Ärzte-Diagnosen wurden falsch eingetütet, sie gelten nicht ihm. Er verkauft den von seiner Frau geerbten Verlag und geht zurück nach London, in das Haus des verstor-benen Onkels, zur Mittelmeerkarte. Hier hat er Zeit zum Nachdenken über immer das Gleiche. Wie überhaupt fast alle Figuren über immer das Gleiche reden und korrespondieren und reden und korrespondieren. Alle Figuren im immer gleichen Ton, gut erzogen, belesen, empfindsam für Worte, ohne abweichende Meinungen. Nichts kann sie wirklich erschüttern. Leider. Die Leserin und der Leser werden an keiner Stelle überrascht, irritiert, in ihrer Lektüre gestört. Ermüdend, langweilig.

 

August 2020

Kurzkritik: Meine Urlaubslektüre

Julian Barnes: Die einzige Geschichte, Kiepenheuer & Witsch 2019 (Original: The Only Story, 2018). Keine außergewöhnliche, aber eine nette Story, die Liebschaft eines Jünglings und einer doppelt so alten Frau, die die Möglichkeit und Widernisse von Liebe überhaupt thematisiert. Leider wird Barnes‘ Erzählen mit der Zeit – gegen Ende des Buches, wo die Erinnerung des alt gewordenen ehemaligen Jünglings in den Vordergrund rückt – immer verkopfter. Mehr redundante Essayistik als Roman. Muss man nicht lesen. Keine Empfehlung.

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens, Suhrkamp 2018 (Original: Mémoire de fille, 2016). Die hierzulande spät entdeckte Wegbereiterin des autofiktionalen Schreibens erzählt ihre bittere Geschichte der Heranwachsenden und jungen Frau. Schnörkellos, eindrucksvoll, reflektiert. Unbedingt empfohlen!

Simone Lappert: Der Sprung, Diogenes 2019. Ein Erstling, dem eine außergewöhnliche Idee zu Grunde liegt, der schön erzählt sowie gut und leserfreundlich (als Episodenroman) konstruiert ist. Originelle Figuren, die sehr liebevoll gezeichnet sind. Die meisten sind für eine Lese-Überraschung gut. Ein sehr empfehlenswerter Schmöker!

Eugen Ruge: Metropol, Rowohlt 2019. Eine deutsche Kommunistin und ihr Lebensgefährte im gelobten Land. 1936/1937 sitzen sie als (bald ehemalige) geheime Komintern-Mitarbeiter im Moskauer Hotel Metropol fest – wie nach und nach viele andere. Willkür, Angst, Ungläubigkeit, Denunziation … Verhaftungen, Prozesse und Erschießungen. Die "Säuberungen" hinterlassen große Lücken unter den Emigranten und in den Köpfen und Seelen der Überlebenden. Ein Roman, mit dem der Autor seine Familienbiografie fortsetzt. Ein Buch, das berührt, erschüttert, auch amüsiert und vor allem fesselt. Bekannte und unbekannte Täter und Opfer. Große Politik und banale Alltagsgeschichten. Unbedingt empfehlenswert. Nicht nur für alle, die es nie glauben wollten.

 

Juni 2020

Fundstücke: Der Zahn der Zeit

Mehr als alles andere fürchte ich die Zeit. Wenn ich Freunde nach Jahrzehnten treffe, stemme ich mich inzwischen mechanisch gegen die Melancholie, in ihrem Gesicht meine eigene Vergänglichkeit gespiegelt zu sehen. Auch die Schönste des Schulhofs stellte ich mir, um der Enttäuschung vorzubeugen, mit allen Schattierungen des Alters vor, stämmig und faltig geworden, die Lippen brüchig, die Mundwinkel nach unten gerutscht ... eine vergrämte, ältere Frau, die nichts mit der lebensfrohen Abiturientin gemein hat als den Namen und allenfalls äußere Merkmale wie die Nase, die sich zur Spitze hin leicht nach oben wölbt.

(Navid Kermani, Sozusagen Paris, Rowohlt 2018)

 

August 2020

Fundstücke: Ich? Ich!

Der Eingang des Hotels lag in einem nur schwach beleuchteten niedrigen Laubengang, die Glastür war verriegelt. Ich drückte die Nachtglocke. Erst während ich wartete, merkte ich, wie betrunken ich war. Ich lehnte mich mit einer Hand an das kalte Glas. Nach einigen Minuten klingelte ich noch einmal. Ich erinnerte mich an die Kontrollgänge während meiner Zeit als Nachtportier. (…) Endlich hörte ich eine Tür knallen und sah kurz darauf Bewegung im Flur, die innere Glastür ging auf, und ein junger Mann kam auf mich zu. Während er am Schloss herumhantierte, sah ich sein Gesicht neben der Spiegelung meines eigenen, aber erst als er mir die Tür aufhielt, erkannte ich, dass er ich selbst war.

(Peter Stamm, Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt, S. Fischer 2018)

Ich spürte die reine weiße Wand an meinem Rücken. Das schwach gerillte Muster unter meinem Handteller, als ich ihn auf die Tapete legte. Den kühlen Stahl an meiner Wange, als ich den Kopf an den Aktenschrank lehnte. Die sanfte Bewegung, wenn die Schublade auf ihren Metallschienen auf und zu glitten. Die Ordnung. Ich zählte die Tapetenbahnen an der Längsseite. Kam auf fünf. Nach kurzer Zeit fühlte ich mich wieder fitter. Ich musterte mich im Spiegel und sah, dass ich wieder mein altes Ich war. Ich sah unverschämt frisch aus. Ich rückte die Krawatte gerade und ging in das Büro hinaus.

(Jonas Karlsson, Rummet, 2009; dt.: Das Zimmer, Luchterhand 2016)

 

Mai 2020

Fundstücke: Voreheliche Szenen in Middlemarch

Doch das Hindernis hatte er selbst freiwillig herbeigeführt, als er zu dem Schluss gelangt war, es sei nun an der Zeit, sein Leben mit den Reizen weiblicher Gesellschaft zu schmücken, mit dem Zeitvertreib weiblicher Interessen die Schwermut zu erheiteren, der die Zeiträume zwischen ernsthaften Studien unterlagen, und sich so in seinem besten Alter des Trostes weiblicher Fürsorge für seine späteren Jahre zu vergewissern. So hatte er beschlossen, sich dem Strom der Gefühle zu überlassen, und fand es vielleicht überraschend, welch ausnehmend seichtes Bächlein das war. (...)

... und die Hochzeitsvorbereitungen gingen ihren Gang und verkürzten die Wochen der Verlobungszeit. Die Braut sollte ihr künftiges Zuhause besichtigen und sagen, welche Veränderungen sie wünschen mochte. Frauen dürfen vor der Heirat ihre Wünsche äußern, damit sie danach Geschmack an der Unterwerfung finden. (...)

Mit freudiger Empfindung ging Dorothea durch das Haus. Alles kam ihr geheiligt vor: Dies sollte das Zuhause ihres Ehelebens sein, und sie sah Mr. Casaubon mit vertrauensvollem Blick an, als er sie eigens auf einzelne Arrangements hinwies und sie fragte, ob sie Veränderungen wünsche. Für die Rücksicht af ihren Geschmack war sie dankbar, aber sie hatte keine Änderungswünsche.

(...)

Jeder Nerv und jeder Muskel Rosamonds war darauf eingestellt, dass man sie beachtete. Sie war von Natur aus eine Schauspielerin, deren Rollen sich in ihrer physique ausdrückten, und sie spielte ihren eigenen Charakter so gut, dass sie nicht wusste, dass es tatsächlich ihr Charakter war. (...)

Und dennoch war dieses Ergebnis namens Liebe auf den ersten Blick, das Rosamond als gegenseitigen Eindruck auffasste, genau das, was sie im Vorhinein erwogen hatte. Seit der bedeutenden Ankunft des Arztes in Middlemarch hatte sie sich eine kleine Zukunft ausgemalt, deren Anfang etwas wie diese Szene bilden musste. Fremde (...) übten schon immer eine den Umständen geschuldete Faszination auf den jungfräulichen Geist aus, der kein heimatliches Verdienst gleichkommen kann. Und ein Fremder war unentbehrlich für Rosamonds gesellschaftliche Romanze, die immer einen Liebhaber und Bräutigam zum Inhalt gehabt hatte, der kein Middlemarcher war, sondern aus anderen Verhältnissen stammte als sie selbst ...

(George Eliot, Middlemarch, Rowohlt 2019)

 

Oktober 2019

Verdrängt: Jugoslawien

Es war nicht geplant. Kein „Thema“, das absichtsvoll angesprochen oder das erzählend „behandelt“ werden sollte. Beim Schreiben drängte es sich dann aus sehr unterschiedlichen Gründen auf.

Die „Wolkenschieber“ standen Anfang der 90er an einer Weggabelung. Andreas versucht seinen Kurs zu halten, Benno geht nahezu unbeabsichtigt in eine andere Richtung. Ausgesprochen wird dies von den beiden Freunden eher beiläufig. Die Folgen sind jedoch essenziell. Im dritten Teil des zweiten Romans – „Das andere Land“ – sind die Neunziger schon längst Geschichte. Serben und Albaner stranden in Deutschland. Die Ergebnisse und Folgen des Jugoslawienkriegs sind nur noch eine private Herausforderung für zwei Protagonisten – und für eine davon auffällig unberührte junge Frau.

Dass sich mir – als Autor – Jugoslawien in beiden Geschichten so stark aufgedrängt hat, liegt, so meine Erklärung, an der eigenen jahrelangen Verdrängung dessen, was sich warum und wie in der erzählten Zeit im ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien ereignet hat.

 

Dezember 2019

Die ziellose Flucht einer mutigen Frau

Eine in der Sache banale Geschichte. Berlin, Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre: Eine gutbürgerlich verheiratete junge Frau – ihr Ehemann ist Landgerichtsrat am Bezirksgericht in Moabit –, Mutter zweier kleiner Kinder, verliebt sich Knall auf Fall in einen amerikanischen Geschäftsmann. Eine zufällige, auf den ersten Blick kurze und harmlose Liebelei. Doch eine mit Folgen. Sie folgt ihm auf Zuruf für ein kurzes Wochenende zum titelgebenden Rendezvous in Paris (Edition Ebersbach 2012; Originalausgabe: Das große Einmaleins, Querido Verlag, Amsterdam 1935). Sie wagt den Schritt, der – das weiß und riskiert und will sie – ihre Ehe und ihr bisheriges Leben beenden würde. Er dagegen, in Flirts geübt und angemessen verabschiedet von einer Pariser Daueraffäre sowie begleitet von seiner aus England anreisenden Ehefrau, kehrt wieder in die USA zurück. Sie besteigt am selben Tag ein Flugzeug Richtung Deutschland.

Eine raffiniert erzählte Geschichte. Vicki Baum lässt die erzählten Tage – Dienstag, Mittwoch, Freitag, Samstag – jeweils aus der Perspektive von Evelyn Droste („Sie“), aus der von Frank Davis („Er“) und der von Kurt Droste („Der Mann“) Revue passieren. Dieser Erzählkniff ermöglicht es, die gravierenden Unterschiede hinsichtlich der Erwartungen, Empfindungen, Wertungen und Schlussfolgerungen (vor allem des Liebespaares) offenzulegen, ohne dass diese von den Protagonisten selbst und direkt thematisiert werden müssten. Zudem macht Baums Erzählweise deutlich, welche „großen“ und welche „kleinen“ Geschehnisse an besagten Tagen bei Evelyn Droste und welche bei Frank Davis Erschütterungen und Sehnsüchte provozieren oder eben einfach nur zur Kenntnis genommen beziehungsweise schlicht „übersehen“ werden. „Er“ und „Sie“ sind weniger als ein Paar.

Ein Melodram mit Tiefgang und Witz. „Der Mann“ ist lange Zeit ahnungslos. Er ist mit seiner Ehe eigentlich zufrieden und zudem rund um die Uhr mit einem ihn stark beschäftigenden Mordprozess befasst. Er spürt die Unzufriedenheit seiner Frau, hat aber keine Vorstellung von den Gründen und der Tragweite ihrer Frustration und Fluchtgedanken. Er sorgt sich mehr um die nicht bezahlte Gasrechnung und die Kosten der Haushaltsführung. Er muss unbedingt die nächste Stufe der Karriereleiter schaffen, um sorgenfrei und dauerhaft zur gutbürgerlichen Gesellschaft des Berliner Westens zu gehören. Frank Davis handelt mit kalifornischen Zitrusfrüchten, überschlägt seinerseits rund um die Uhr mögliche Margen und die gerade noch akzeptablen Abgabepreise. Verhandlungen mit deutschen und französischen Importeuren sind der eigentliche Grund seines Europa-Trips.

Baums Roman kommt mit wenig Personal aus: Evelyn, die ihre Sehnsüchte teuer bezahlt. Ein smarter Ami. Ein keineswegs unsympathischer Ehemann. In einer wichtigen Nebenrolle: Marianne, die gute Freundin beider Drostes. Die anderen sind Staffage.

Vicki Baum bedient sich eines lapidaren Stils, die Nähe zur Neuen Sachlichkeit ist nicht zu übersehen. Sie kennt ihr Milieu. Sie bricht immer wieder Leseerwartungen, sie rührt an Tabus. Vicki Baum ist eine genau hinschauende, humorvolle, zu ihrer Zeit sehr erfolgreiche, heute leider – wie ihre Zeitgenossin Irmgard Keun – zu Unrecht weitgehend vergessene große Chronistin des Berlins der Endzwanziger und seiner Frauen. Die Verfilmungen ihrer Romane waren Kassenschlager. Von den Nazis als „jüdische Asphaltliteratin“ diffamiert, emigrierte sie bereits 1932 in die USA, wo sie 1960 starb.

 

November 2019

Fundstück: Erinnerung

... Es ist seltsam, dass es Jahre gibt in meinem Leben, an die ich kaum Erinnerungen habe, die scheinbar spurlos an mir vorübergegangen sind. Selbst wichtige Ereignisse, die in meiner Biographie tiefe Spuren hinterlassen haben, die Wendepunkte waren, erinnere ich oft nicht, als hätten sie ohne meine Anwesenheit, ohne mein Zutun stattgefunden. Und dann wieder gibt es kleine Szenen, die vermeintlich ohne Bedeutung sind und die mir doch nach zwanzig oder dreißig Jahren so präsent sind, als hätte ich sie eben erst erlebt ...

(Peter Stamm, Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt, S.Fischer 2018)

 

Oktober 2019

Innen und außen

Kürzlich ein sehr anregendes Gespräch geführt. Vor allem zwei Fragen bleiben in Erinnerung, die mein Gegenüber und ich in der praktischen Schreibarbeit unterschiedlich beantworten.

Erstens: F. schreibt von innen nach außen. Das sich schrittweise entpuppende Innenleben der Figuren, das individualpsychologische Moment trägt die zu erzählende Geschichte und bestimmt deren Bahnen. Es wird viel gedacht. Ich dagegen entwickle die Geschichte aus den Beziehungen der Figuren untereinander. Es gibt mehr Einflussfaktoren, die den Fortgang und die Wendungen – und die Figuren! – bestimmen. Es wird gern geredet, immer wieder zusammen gegessen.

Zweitens: Ich schreibe recht schnell, ganze Passagen und Kapitel „am Stück“. Mich treiben die Figuren, die „immer weiter“ wollen. Die Überarbeitung, die Feinarbeit, die großen und die klitzekleinen Korrekturen folgen nach dem Schreiben des letzten Satzes – in drei, vier oder auch fünf Durchgängen. F. ist penibel. Jeder Satz, jeder einzelne Gedanke muss in die richtigen, passenden Worte gefasst werden. Die Korrektur, Verbesserung, Perfektionierung muss hier und jetzt geschehen. Sonst gibt es kein „Weiter“.

Am Ende unseres Beisammenseins bleibt ein Drittes: Ich skizziere in Gesprächen gern erzählend Schlüsselszenen und entscheidende Gedanken aus meinen Romanen. F. kann eigene Schlüsselsätze so zitieren, als handele es sich um Kants „Phänomenologie“.

 

Dezember 2019

Fundstück: Minispaten

... Die Soldaten machten sich maulend ans Schaufeln. Soldaten maulen immer, vor allem wenn sie Dinge tun müssen, zu denen sie keine Lust haben, und wer hat schon Lust, ein Gemeinschaftsgrab zu schaufeln, das auch noch ordentlich, das heißt, tief genug sein soll, was weiter heißt, dass sie große Mengen Erde ausheben müssen. Die Erde war nach dem vielen Regen zwar weich (und duftend), aber die Militärspaten sind eigentlich Minispaten, so dass für die gleiche Menge Erde, die ein richtiger Totengräber mit einem richtigen Spaten herausbefördert, der Soldat mindestens fünf, sechs Mal ansetzen muss. Jedem wäre das zu viel, nicht nur einem Soldaten, das steht fest, so wie es feststeht, dass jeder und nicht nur ein Soldat in dieser Situation intensiv an seinen eigenen Tod dächte und daran, wer wohl sein Grab schaufeln würde. Das ist eine echte Stresssituation, aber wenn man bedenkt, was sie alles umfasst, musste man froh sein, dass die Soldaten nur ein bisschen maulten ...

(David Albahari, Kontrolni punkt, Belgrad 2010; dt.: Kontrollpunkt, Schöffling & Co. 2013)

 

Dezember 2019

Fundstück: Immer und ewig

… Das Schlimmste war, dass er mich in diese ziellose Routine mit hineingerissen hat, ein reines Kreisen des einen um den anderen, ein gegenseitiges Verschlingen bei immer weniger Appetit. (…) Ich begann, Michel als gefangene Kreatur zu sehen, die mich zu sich in den Käfig stecken wollte. Wenn er vom Krankenhausbett aus die Hand zu einer Berührung ausstreckte, den Blick voller Verlangen, meinte ich, bei ihm den wahnwitzigen Anspruch zu erkennen, von dem wir in Grusel-geschichten lesen, in romantischen Romanen und in den von den Surrealisten geschätzten Phantasmagorien: der Wunsch nach Liebe, die den Tod überdauert …

(Rafael Chirbes, Paris-Austerlitz, Barcelona 2016; dt.: Paris-Austerlitz, Antje Kunstmann 2016)

 

November 2019

Freier Fall: Als Objekt ist sie verloren

Adèle ist gut situiert, mit einem Klinikarzt verheiratet, hat einen kleinen Sohn, sie ist als Journalistin anerkannt, die Wohnung im 18. Arrondissement am Montmartre ist großzügig. Ihr fehlt es an allem, was ihr Leben lebenswert machen würde. Sie sucht und findet. Sie spielt nicht, trinkt nicht, gibt nicht Unsummen in Boutiquen aus, wettet nicht auf Pferde und hat keine kleine pikante Affäre. Adèle zieht los und sucht Sex, mit beliebigen Männern, an beliebigen Orten, zu jeder Zeit. Harten, brutalen Sex. Körperliche Verletzungen, gewollt und goutiert, gehören dazu. Ficks, die auch mal in Blut und Kotze enden.

Sie nimmt nicht, sie will genommen werden. „Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haaren verschlungen werden. (…) Sie will eine Puppe im Garten eines Ungeheuers sein.“ Dans le jardin de l’ogre lautet deshalb auch der Titel der französischen Originalausgabe des 2015 Aufsehen erregenden Debüts von Leila Slimani. Die bei Luchterhand 2019 erschienene deutsche Ausgabe verweist mehr auf das, was die Protagonistin hinter sich lassen will: All das zu verlieren. (Die englischsprachige Ausgabe ist schlicht mit Adèle betitelt.)

Die Heirat mit Richard war keine Liebesheirat („Ich habe ihn geheiratet, weil er mich gefragt hat. Er war der Erste und bisher der Einzige. Er hatte mir was zu bieten.“). Der kleine Sohn Lucien, anhänglich und unerzogen, „ist eine Last, eine Verpflichtung, an die sie sich einfach nicht gewöhnen kann“. Und ihr Dasein als gefragte Journalistin? „Adèle mag ihren Beruf nicht. Sie hasst die Vorstellung, dass sie arbeiten muss, um davon zu leben.“ Die Liste der öden Zustände und nicht erfüllten Wünsche ließe sich fortsetzen. Man kennt sie – aus dem Leben und aus der Literatur. Auch die da wie dort immer wieder gesuchten Auswege, Fluchten und alternativen Entwürfe sind bekannt. Adèle wählt das Extrem. Sie fällt und will fallen. Unendlich tief.

Die Vorgeschichte? Adèle wollte dazugehören und wie die anderen sein. "Indem sie Ehefrau und Mutter wurde, hat sie sich mit einer schützenden Aura der Achtbarkeit umgeben ..." Ein Schutzschild, hinter dem Leichtsinn und Liebeleien Platz haben könnten? Eben nicht. Ein letztlich unerheblicher Schutzschild für ihre Sucht, von der sie weiß und die sie lebt. Sexsucht, von der sie sich immer nur für ein paar Tage – bedingt durch äußere Umstände oder wegen erheblicher körperlicher Blessuren – befreien kann. Gier nach Sex, die nichts Befreiendes hat und deren Ausleben Adèle immer stärker beschädigt zurücklässt. Begierde endet in Selbstverstümmelung.

Warum? Wie viele Mädchen hat Adèle dies erlebt: Onkel, die ein Auge auf sie warfen. Der fette Nachbar, dem sie unterm Küchentisch zu Diensten sein musste. Ein Bummel (an der Hand ihrer Mutter) durch das Viertel rund um den Place Pigalle und den Boulevard de Clichy, der bei der Zehnjährigen Erstaunen und Entsetzen hinterlässt: „Niemals, weder in den Armen der Männer noch bei ihren Spaziergängen auf demselben Boulevard Jahre später, hatte sie je wieder dieses magische Gefühl, das Niedere und Obszöne, die bourgeoise Perversion und das menschliche Elend so mit der Hand greifen zu können.“ Mit fünfzehn Jahren dann „das erste Mal“, missglückt, anders als erhofft und erträumt, mit einem Siebzehnjährigen auf dem Betonboden einer Garage statt im Bett eines Strandhauses, angetrunken, überhastet. Sie hatte großmäulig behauptet, „es“ schon mal getan zu haben. Das Ende vom Lied: „Sie fühlte sich zugleich schmutzig und stolz, gedemütigt und siegreich.“ Sie verschlingt Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und liest immer wieder bestimmte Stellen. „Sie wiederholt diese Sätze wie ein Mantra.“ Adèle kann dem Sog nicht widerstehen. „Ihr ging es nicht um die Körper, sondern die Situation. Genommen werden. (…) Die Erotik bemäntelte alles. Sie verbarg die Trivialität, die Nichtigkeit der Dinge. Sie schärfte die Konturen ihrer Schülerinnennachmittage …“

Rund zwei Jahrzehnte später ist alles beim Alten. Richard, der schon immer treusorgende Ehemann (der Sex nie wirklich interessant fand), hat gegen Adèles Willen ein Haus in der Normandie gekauft und sich an einer Klinik in Lisieux beteiligt. Das Paar verlässt Paris, lässt alles hinter sich. Die Wohnung ist gekündigt, Möbel, Kleidung, Bücher, auch Bilder und sogar Fotoalben bleiben zurück. Adèle hat ihre Arbeit geschmissen. Richard will neu anfangen. „Er hat sich für Adèle ein neues Leben vorgestellt, in dem sie vor sich selbst und ihren Trieben in Sicherheit wäre. Ein Leben, bestehend aus Zwängen und Gewohnheiten.“

Adèle lebt jetzt leblos in der Provinz.

Und weiter? Nichts. Richard träumt am Ende davon, dass die Sucht mit dem Alter versiegt. Er, der seine Frau niemals mehr berührt hat, spürt bereits seine liebende Hand auf dem Körper der alten, sehr alten Adèle. „Adèle wird zur Ruhe kommen.“ Doch ihm bleibt nur der Traum, denn Adèle ist wieder nach Paris gefahren und nicht zurückgekehrt. Sie bleibt verschwunden mit ihren Sehnsüchten. Sie ist und bleibt zerrissen. Immer wieder verspürt sie „ebenso grenzenloses Entsetzen wie grenzenlose Freude“.

Und sonst? Schön beschriebene und sezierte Szenen, die den freiwilligen tiefen Fall Adèles weder aufhalten noch beschleunigen: Die kleinbürgerlichen Herkunftsfamilien, durch anderthalb soziale Treppenstufen voneinander getrennt; die immer gleichen Besuche bei beiden Elternpaaren zu Weihnachten und Silvester; Mutter und Schwiegermutter als ewige Last; Richard als der gute Sohn und als ein noch besserer Fang; Adèle als schlechte Köchin; der stumme Vater, der als freier Algerier in Moskau studieren konnte, den niemand jemals verstand und neben den sich Adèle nackt aufs Totenbett legt; die Freundin Lauren, die von Anfang an (fast) alles weiß und mit der Adèle gern eine Liebesnacht verbracht hätte, die aber – so wird erzählt – zum Glück nicht stattfand und in einem Fiasko geendet hätte.

Slimani bedient sich einer detailreichen, aber verknappenden Erzählweise. Das Schreiben im Präsens unterstreicht das Unmittelbare und sorgt für ein hohes Tempo. Ein fulminanter Erstling, der an wenigen Stellen ins Schlingern gerät. Ein sehr mutiges Buch. Ob Adèles Weg – wie manche Rezensentin behauptet – weibliche Sexualität in einem neuen, nicht männlichen, emanzipativen Licht erscheinen lässt und die Lektüre befreiende Erkenntnisgewinne verspricht … – die Antwort können nur Frauen geben.

 

Januar 2020

Fundstück: Regelverletzung im Gleichklang

… Auch wenn die Brücke keine klare Regel darüber kennt, wo die Kandidaten während des Programms zu leben haben, steht fest, dass eine private Unterbringung bei Babak oder Britta komplett gegen die Idee des Verfahrens verstößt. Es gilt, Distanz zu halten, sich nicht zu identifizieren und schon gar nicht anzufreunden. Vor allem macht es Britta fassungslos, dass Babak ihr nichts von der neuen Wohngemeinschaft erzählt hat. Allerdings hat sie ihm auch nichts von Guido Hatz erzählt, jedenfalls bis heute, denn eigentlich ist sie hergekommen, um mit ihm darüber zu sprechen. Der Gleichklang zwischen ihnen ist so perfekt, dass sie sogar zeitgleich Geheimnisse voreinander haben …

(Juli Zeh, Leere Herzen, Luchterhand 2017)

 

Dezember 2019

Versager, Handlanger und Mörder

Manche Kritiker sprechen bereits von der „Methode Vuillard“. Auch das jüngste Werk des französischen Schriftstellers Éric Vuillard liefert diesen eigentümlichen Mix aus Bericht und Erzählung, aus historischen und politischen Fakten einerseits und deren fiktionaler Einbettung und Ausformulierung andererseits. Bis hin zum nebensächlichsten Detail welthistorisch bedeutender Ereignisse, bis hin zum noch so banalen Tun der versagenden, nieder-trächtigen, mordenden Protagonisten.

Die Tagesordnung (Matthes & Seitz 2018) beginnt mit dem 20. Februar 1933. An diesem Tag begrüßt Reichstagspräsident Göring 24 namentlich bekannte Herren, Bankiers und Großindustrielle, die Hitlers Wahlkampf-Sammelbüchse füllen sollen und dann auch füllten. Opel, Siemens, Krupp, IG Farben, Flick, Tengelmann, BASF, Bayer, Allianz, Agfa, Quandt, von Finck usw. usf. steht in der ersten oder eben in der zweiten Zeile ihrer Visitenkarten. Sie alle, die Herren im Gehrock und ihre Konzerne haben den Spuk, der am Ende weit über 50 Millionen Menschen das Leben kosten sollte, überlebt. Das versprochene Tausendjährige lag in Trümmern. Doch die deutsche Wirtschafts- und Arbeitgeber-geschichte konnte unbeschädigt weitergeschrieben werden. Das geheime Treffen vom 20. Februar ist heute kein Geheimnis mehr. Doch so knapp und beiläufig und demaskierend wie Vuillard hat es meines Wissens noch niemand beschrieben.

Zum Schmunzeln, zum Verzweifeln und Nachdenken verleiten auch die Episoden rund um den März 1938 und die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich. Der österreichische Kanzler Schuschnigg, Austrofaschist und selbsternannter Frontführer, wird anlässlich seines Besuchs bei Hitler im Berchtesgadener Berghof in seiner ganzen Armseligkeit, Großmannssucht und Liebedienerei vorgeführt. Der französische Präsident Albert Lebrun hatte in der historischen Stunde, in der Hitlers Ultimatum auf Schuschniggs Schreibtisch lag, anderes, wichtigeres zu tun. Für einige Lagenweine mussten Herkunftsbezeichnungen geregelt werden, das geplante Budget der staatlichen Lotterie erforderte seine Aufmerksamkeit. Sein Premier Daladier sollte dann später im Jahr mit Britannias Premier Chamberlain und mit reinem Gewissen nach München reisen.

Chamberlain übrigens wird uns von Vuillard als privater Gastgeber (weil ehemaliger Wohnungsvermieter) Ribbentrops vorgestellt. Im Rahmen eines Abschiedsessens zeigt sich der großmäulig auftretende Deutsche (bislang Botschafter in London, neuerdings Außenminister in Hitlers Regierung) zusammen mit seiner Gattin als zunehmend lästiger Gast. Der Abend zieht sich, der Kaffee und die Schnäpse sind längst getrunken, die Gastgeber sind müde, doch die Gäste kleben in ihren Sesseln. Eine köstliche Szene. Der zähe Ausklang des langweiligen Abends wird zu später Stunde durch einen Boten des britischen Außenministeriums unterbrochen. Für Chamberlain & Co. (auch Churchill u.a. sind anwesend) ist mit der überbrachten geheimnisvollen Nachricht der Abend sozusagen endgültig im Eimer, man bittet um Entschuldigung und zieht sich zurück. Die deutschen Gäste zeigen Verständnis, verabschieden sich und feixen auf dem Nachhauseweg. Weil sie schon vor dem Abendessen wussten, was die Nachricht besagt: deutsche Truppen sind in Österreich einmarschiert.

Es folgen weitere groteske Ereignisse, bekannte und unbekannte, wirkliche und unwirkliche Begebenheiten. Sie werden vom Filmemacher Vuillard großartig in Szene gesetzt. Etwa ein Telefonat Görings mit Ribbentrop, das später, während der Nürnberger Prozesse, eine Rolle spielt. Der senile Gustav Krupp sieht kurz vor der Flucht aus der Villa Hügel keine Geister, sondern Zehntausende tote Zwangsarbeiter, die ihm die SS besorgt hatte, und fragt: „Wer sind eigentlich all diese Leute?“ Und derweil wienert der emigrierte deutsche Jude Stern im riesigen Requisitenlager des Kostümverleihs Hollywood Custom Place bereits zu einer Zeit SA- und SS-Stiefel, als dieses Schuhwerk im fernen Europa noch von leibhaftigen Menschenschindern und Mördern getragen wurde. Der Reigen schließt sich: Lapidar schildert Vuillard auf den letzten Seiten auch die Selbsttötung von vier Männern und Frauen im Wien des März 1938 und kommentiert, deren Leid sei etwas Kollektives und deren Suizid das Verbrechen eines anderen.

Gerade einmal 100 Seiten, die den Eindruck hinterlassen, man habe einen sehr dicken Wälzer und ein flottes Drehbuch und einen amüsanten Comic und eine buchhalterisch korrekte unendliche Totenliste gelesen. Verstörend.

 

Dezember 2019

Preisrätsel für aufmerksame Leseratten

Meine beiden Romane – Wolkenschieber oder Drei Sommer am Cap und Das andere Land oder Siesta am Kanakenbunker – haben „eigentlich“ nichts miteinander zu tun. Und doch tauchen einige Figuren in beiden Geschichten auf oder werden dort zumindest namentlich erwähnt. Um wen handelt es sich?

Wer mir bis zum 31. Janaur 2020 zuerst die Namen der Personen via Kommentar oder per E-Mail nennt, der oder die bekommt meinen im Frühjahr erscheinenden Erzählungen-Band geschenkt.

Und hier die Auflösung: Vier Figuren tauchen in beiden Romanen auf, davon jedoch nur eine "wirklich". Connie, eine der vier Hauptfiguren im Wolkenschieber-Roman, stößt im Roman Das andere Land nach längerer Abwesenheit (infolge der Geburt ihrer zweiten Tochter) wieder zur Klatsch-Clique. Zwei andere Figuren aus dem ersten Roman – Maxi und Benno – werden im zweiten nur erwähnt (Oliver will auf der Fahrt nach Rostock ggf. bei Maxi in Hamburg übernachten; Maxi hat ihrerseits – vor dem Rückflug von Frankfurt nach New York – den selben Wunsch an Oliver und Alexandra).

Nicht alle, aber doch einige Leserinnen und Leser, die sich bei mir gemeldet haben, nannten diese drei Namen. Nur eine Leseratte – Ellen D. aus Heidelberg (herzlichen Glückwunsch!) – wusste auch den vierten Namen: Anna, die Tochter von Connie und Andreas, wird in Das andere Land als 1990 ernsthaft erkranktes Kleinkind erwähnt. In Die Wolkenschieber genießt sie im Sommer 1992 die Ferien am Cap Fréhel und hadert 2007 ebendort mit den Gefühlen und Unsicherheiten einer Achtzehnjährigen.

 

Oktober 2019

Werkstatt: Wenn Figuren laufen lernen

Dora, die zweite Frau und vierte Hauptfigur im "Wolkenschieber"-Roman, ist nicht nur einfach in die Handlung hineingeplatzt, sondern war mir zwischenzeitlich davongelaufen. Ihr Ehrgeiz und ihre Willensstärke waren schwer zu bändigen. Um sie nicht ganz zu verlieren, musste ihre späte Liebe, die ihr viel Sicherheit und Ruhe gegeben hätte, tödlich verunglücken. Nur so konnte die Figur Dora die alte bleiben ... voller Selbstbewusstsein, Schroffheit und prallen Attraktivität. Sie sucht. Zum ihrem und meinem Glück trifft sie Franky, den schmächtigen, redseligen Ossi, der mehr kann als es scheint, und der ihr Spaß macht. Doras größter Vorzug: Sie ist eine gute Freundin.

 

Dezember 2019

Vorankündigung: Textanfänge

Die Arbeit an den kürzeren Texten, die ich im September angekündigt hatte, ist fortgeschritten, weit fortgeschritten. Es werden wohl insgesamt neun Erzählungen sein (darunter auch die vom Guimiliau-Besuch inspirierten), die in einem Band im kommenden Frühjahr veröffentlicht werden sollen. Um die neugierigen Besucherinnen und Besucher dieser Website noch etwas auf die Folter zu spannen, folgen hier die jeweils ersten Sätze der neun Geschichten.

Camille, seines Zeichens Oberkellner im Castel du Sphinx, freute sich, als die beiden älteren Herrschaften zum ersten Mal ein Wort wechselten. Vor vierzig Jahren hatte er zum ersten Mal das kleine Haus betreten – und zum letzten Mal. Als sie begann, sich in ihrer eigenen kleinen Welt einzurichten, hatte sie die Schläge längst vergessen. Endlich den Dreh gefunden und an den Schreibtisch gesetzt. Alenka war freundlich, hilfsbereit und fleißig. Das knisternde Kaminfeuer entwickelte eine Hitze, die, kam man von draußen, den Eintretenden wohlig umschloss, aber dem, der sich länger als zehn Minuten in der Nähe der glühenden Holzscheite aufhielt, doch ein eher unangenehmes Prickeln auf der Haut bescherte. Die Maschine würde vermutlich nur zur Hälfte besetzt sein. Das Klingeln durchschnitt die Stille. Er hatte sich nun doch für ein E-Bike entschieden.

 

November 2019

Fundstück: Ich und ich

… Beim geringsten Fehler stellte mich Hanna an die Wand, fesselte mich mit Bandwurmsätzen und schoss mir eine Salve Fremdwörter um die Ohren. Je wortkarger ich wurde, desto mehr raste mein Hirn. (…) Ich wusste genau, was sie beruhigte, was sie zum Lachen brachte und was sie explodieren ließ. Um mit Hanna leben zu können – und das wollte ich unbedingt –, brauchte ich ein zweites Ich, das ich ihr zu hundert Prozent vorenthielt. Ich brauchte Verstärkung, ein Außen-Ich für Hanna und ein streng geheimes Innen-Ich ganz allein für mich …

(Joachim Meyerhoff, Die Zweisamkeit der Einzelgänger, Kiepenheuer & Witsch 2017)

 

September 2019

Eine Herausforderung: Kinderstimmen

Sex, Geschlechtsverkehr, Beischlaf. Auf der Seite der Kritik wie auf der der Schriftstellerei gibt es zahlreiche Autoren, die sagen: Das Ausleben und Genießen von Sexualität sei eines der schwierigsten, wenn nicht das schwierigste Sujet des Erzählens. In meinen Augen liegt damit gleichauf: Kindern eine authentische, glaubwürdige, den Figuren angemessene Stimme zu geben.

Ein sehr krasses Beispiel dafür, wie dies misslingen kann, findet sich bei Juli Zeh, Neujahr (Luchterhand 2018). Nahezu der gesamte zweite Teil des Romans, dessen Hauptfigur Henning im ersten Teil dem beruflichen, ehelichen, familiären und Lebensfrust durch eine ihn sehr anstrengende Radtour auf Lanzarote entkommen will, erzählt von Henning als Kind. Und soll von einem dreißig Jahre zurückliegenden traumatischen Erlebnis des vierjährigen Jungen und dessen noch jüngerer Schwester berichten. Wo andere Kritiker genau auf diesen Seiten einen Psychothriller erkennen (und hoch loben), lese ich nur unendlich viele und gekünstelte Dialoge zwischen zwei Kindern. Ein Klugscheißer und ein Mädchen mit voll geschissenen Windeln. Banal, beliebig erweiterbar oder kürzbar. Der vergleichsweise kurze dritte Teil, das sei nur der Ordnung halber erwähnt – Henning ist „wieder“ erwachsen –, will dann die beiden ersten „zusammenbringen“. Folglich sind die letzten Seiten voller Küchenpsychologie. Ein misslungenes Werk.

Lesenswerter ist Der Sommer meiner Mutter von Ulrich Woelk (C.H.Beck 2019). Die erzählte Geschichte – im Mittelpunkt steht der Sommer 1969 – ist amüsant, auch spannend, und hat ihre Details und Abschweifungen weitgehend im Griff. Tobias, Hauptfigur und Ich-Erzähler, ist elf Jahre alt, regelrecht gefesselt von der bevorstehenden Mondlandung und macht in diesen Wochen erste sexuelle Erfahrungen mit einem gerade zugezogenen, zwei Jahre älteren Mädchen aus der Nachbarschaft. Hier liegt die Krux. Sagen wir es so: Quartanerinnen haben nix mit Sextanern, nie, nirgendwo, niemals. Woelk überfordert seine Hauptfigur. Handlung und Sprache, der Blick auf die Dreizehnjährige, auf Rosas Eltern und deren unkonventionelle Eigenheiten (1969!) und der verstörte Blick auf die eigene Mutter, um deren radikalen Sommer es ja am bitteren Ende geht, sind nicht stimmig. Man hätte Tobias gewünscht, dass er sich nicht zu allem und jedem druckfähig äußern muss.

Dreizehn Jahre alt ist auch Arminuta, die titelgebende Hauptfigur im 2018 bei Antje Kunstmann verlegten Roman von Donatella di Pietrantonio. Die (rückblickende) Geschichte des als Kleinkind an nahe Verwandte abgegebenen und nun wieder zwangsweise vom Meer in die Berge zurückgeschickten Mädchens wird lakonisch erzählt, von Arminuta selbst. Voller Härte und Schroffheit, voller Zärtlichkeit und stiller Zuneigung ist der Alltag in dem Abruzzendorf, aber auch der ärmliche Alltag in der vielköpfigen Familie. Arminuta, „die Zurückgekommene“, erzählt in spröden Worten, bewegt, verletzt, untröstlich, verständnisheischend, offenherzig und liebevoll. Sie erzählt, sie tut, sie erlebt und lebt. Das passt zusammen. Die Realität fordert viel von dem Mädchen, die Autorin überfordert sie nicht.

 

Oktober 2019

Parforceritt: Die postsowjetischen Neunziger

Wer sich zwei, drei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion kundig machen will, wie diese Erosion im Kohlerevier, in Stahlwerken und Hafenbetrieben, in Moskauer Etagenwohnungen und Interhotels, in exklusiven Nachtclubs und auf gottverlassenen Provinzflughäfen, von einem KGBler, auf Oligarchen-Datschen und Intelligenzija-Partys, in In-Lokalen oder (vor allem!) in der Umarmung von attraktiven, geilen und klugen Russinnen vonstatten gegangen sein kann, der wird hier fündig. Der im vergangenen Jahr von Norris von Schirach als Arthur Isarin veröffentlichte Roman Blasse Helden (Knaus 2018) liefert einen Parforceritt durch die neunziger Jahre, in denen gesellschaftlicher Reichtum verhökert wurde und in schmutzige Hände fiel. Korruption und Gewalt und schier unbändiger Egoismus trieben bis dahin unvorstellbare Blüten und hinterließen tote oder lebendige Leichen.

Der Autor hat den Vorteil, diesen postsowjetischen Teufelsritt der ungeregelten und enthemmten Kapitalisierung nacherzählen zu können. Er weiß um den Verlauf und das Ergebnis dieser mittlerweile gut zwanzig Jahre zurückliegenden Periode. Er kennt deren auch heute noch aktuellen Nebenwirkungen. Manche Kritiker sagen, er liefere mit seinem Roman einen Steilpass für das dann folgende System Putin.

Von Schirach/Isarin muss nichts erklären. Der Autor bzw. seine Hauptfigur Anton – ein vom Westen frustrierter und vom Russischen angezogener Deutscher, in den Dreißigern, ohne Moral, blass und getrieben – kann Anekdote an Anekdote reihen und immer wieder Klischees bedienen. Ein bunter Reigen von kriminellen Geschäften, Besäufnissen und Melancholie. Gogol wird mehrmals bemüht und endlich mal wieder an Oblomow auf der Ofenbank erinnert. Doch vieles ist beliebig, das meiste vorhersehbar. Der Roman birgt kein Rätsel und keine Überraschung, literarisch eher Dutzendware. Er erzählt auf amüsante Weise und im gestreckten Galopp vom Untergang eines überlebten Systems.

 

November 2019

Fundstück: Buch oder Bett

… Die Bibliothek in Upleigh war der in Beechwood erstaunlich ähnlich. Es gab dieselbe Wand von Büchern, die alle so aussahen, als seien sie nie gelesen worden. (…) Falls Paul Sheringham die Bücher gelesen hatte, so hatte er das nie erwähnt. Er schien der Überzeugung, dass es an der Zeit war, in Upleigh allerlei auszumustern. Die Pferde waren schließlich auch weg. Und als sie ihm von ihrer Lektüre in Beechwood erzählt hatte (später wünschte sie, das hätte sie nie getan), hatte er gehöhnt, wie er über so vieles höhnte, und gesagt: „Diesen ganzen Plunder, Jay? Du liest dieses Zeug?“ Eine Erinnerung, dass ihre Beziehung im Wesentlichen körperlicher Art war und ins Hier und Jetzt gehörte, dass ein Gefasel über Bücher keinen Platz darin hatte …

(Graham Swift, Mothering Sunday, 2016; dt.: Ein Festtag, dtv 2017)

 

September 2019

Inspiration in Guimilau

Ich zähle mich eher zu der schreibenden Spezies, die einen Plan hat und die relativ früh eine Vorstellung von der Struktur der Geschichte sowie deren Äußerem entwickelt. Und diese sind manchmal schwerer umzustoßen als der Verlauf der Geschichte selbst. Ich gehöre auch eher zu denen, die sagen: Spontane Idee? Ja. Inspiration? Nö. Bis jetzt.In meinen diesjährigen bretonischen Sommerferien habe ich - kundig begleitet und geleitet – Guimiliau besucht. Eine Artischocken-Mahlzeit, der eindrucksvolle Calvaire und eine persönliche Anektode, erzählt von meinem Guide, waren offenbar derart inspirierend, dass ich in den folgenden zwei Wochen drei Kurzgeschichten geschrieben habe. Diese haben weder die Mahlzeit noch das Kulturdenkmal oder das vergebliche Erinnern eines Mannes zum Thema. Aber ohne die Anstöße dieses Mittags würde es die Geschichten nicht geben.

 

September 2019

Enttäuschendes Ende: Eine zerbröselte Ehe

Der Roman beginnt grandios. Auf wenigen Seiten zeichnet Bernard MacLaverty das Bild eines müden Paares und dessen mit den Jahren zerbröselten Ehe. Bevor die „eigentliche Geschichte“– die des winterlichen Kurztrips nach Amsterdam – erzählt wird, wissen wir, dass die Ruheständler Gerry und Stella sich nichts mehr zu sagen haben und auch von ihrem Gegenüber nicht mehr erwarten. Die minutiöse Beschreibung abendlicher Rituale und der letzten Reisevorbereitungen erzählt fast zwei ganze Leben. Auch auf amüsante Weise.

Die ehemalige Lehrerin genießt die Stunde, in der sie das Schlafzimmer noch alleine hat, zumal zu dieser Jahreszeit, mit Bettflasche. Gerry, als Architekt nicht in dem Ausmaß erfolgreich wie erträumt, hört Musik und genießt seinen Schlaftrunk. Was für Stella der Glaube, ist für Gerry der Whiskey. Beide kommen davon nicht los. Beide frösteln und witzeln, um dem ernsthaften Disput zu entgehen.

Die wenigen Tage in Amsterdam nehmen die folgenden 250 Seiten des Romans Schnee in Amsterdam (C.H.Beck 2018) ein. Der Besuch des Anne-Frank-Hauses, Spaziergänge entlang der Grachten, unspektakuläre Lokalbesuche. Beiläufiges zu beschreiben, darin besteht MacLavertys Meisterschaft. Der Aufenthalt besteht aus Routine, die unterbrochen wird durch Stellas einsame, auch frühmorgendliche Streifzüge durch die Stadt und durch Gerrys durchsichtige Anstrengungen, den erhöhten Whiskeykonsum und das Beschaffen von Nachschub zu kaschieren. Trostlos, beklemmend.

Stella, die bereits einmal vor zig Jahren Amsterdam besucht hat, sucht und findet den Beginenhof. Ihr Entschluss, sich dem „Frauenorden“ anzuschließen, war ihr eigentliches Motiv für den Trip. Was die gläubige Katholikin, die mit ihrem ebenfalls irischen Ehemann seit vielen Jahren in Glasgow lebt, dazu bewegt hat, soll hier nicht verraten werden. Schließlich ist es „der Kern“ der Geschichte, vor allem des Parts, den Stella spielt. Gerry ist in dieser Hinsicht nahezu Beiwerk. Er scheint bis zum Schluss zu glauben, dass er seine Frau schon alleine mit deren Lieblingsbonbons und mit holländischen Blumenzwiebeln überraschen und halten kann.

Die ständigen Perspektivwechsel und MacLavertys bis dahin anhaltende Freude am Detail tragen dazu bei, das erzählerische Netz eng zu spinnen: Das gibt uns Lesenden Halt und schürt Erwartungen.

Um so mehr bleibt es ein Rätsel, warum der Autor auf den letzten Seiten seine Figuren (und seine Leserinnen und Leser) der Trostlosigkeit entreißen zu können glaubt, indem er eine Volte schlägt. Heftiger Schneefall verzögert den Heimflug nach Schottland. Der Roman könnte innenhalten. Doch er stürzt ab und wird unglaubwürdig. Er endet als Schmonzette. Stella nimmt von einem Gelübde Abschied, Gerry legt ein eigenes ab. Beide scheinen damit zufrieden. Gestern war gestern. A happy ending story also? Nein. Süßliches macht sich auf den allerletzten Seiten breit. Klebrig. Eine Enttäuschung.

 

September 2019

Fundstück: Das Meer

… Auf die Busfahrt freuten sie sich, glaube ich, ein bißchen waren sie auch beunruhigt, weil ich ihnen überhaupt keine Erklärung gegeben hatte. Ich hatte die Regenjacken herausgelegt, weil es am Meer ja oft regnet – so viel zumindest hatte ich verraten: sie würden das Meer sehen. (…) Ein komisches Gefühl war das, die Stadt zu verlassen, abzureisen an einen unbekannten Ort, besonders, weil ja keine Ferien waren, und diese Sache, die ging den Kindern nicht aus dem Schädel, das ist mir schon klar. Wir hatten noch nie Ferien gemacht, waren noch nie über unser Viertel hinausgekommen, und nun war das Leben auf einmal ganz neu, mein Magen krampfte sich zusammen, ich hatte ständig Durst, alles ging mir auf die Nerven, aber ich hab mein Bestes, ja, wirklich mein Bestes getan, damit die Knirpse nichts merkten. Ich wollte, daß wir auf Reisen gehen, ich wollte, daß wir es auch glauben …

(Véronique Olmi, Bord de mer, 2001; dt.: Meeresrand, Verlag Antje Kunstmann 2002)

 

September 2019

Leichenfledderer und Geldsäcke: Frankreich zwischen den Kriegen

Pierre Lemaitre war mir bis dahin unbekannt. Sein Roman Die Farben des Feuers (Klett-Cotta 2019) war das erste, Wir sehen uns dort oben (Klett-Cotta 2014, Taschenbuch: btb 2017) das zweite von mir gelesene Buch des französischen Autors. Ich habe die Bücher in dieser Reihenfolge gelesen, was insofern erwähnenswert ist, als die erzählte Geschichte, die sich über beide Romane erstreckt (grober Zeitrahmen: 1918/19 bis Anfang/Mitte der Dreißiger Jahre), das umgekehrte Vorgehen nahegelegt hätte. Dem Lesevergnügen und dem Lektüreverständnis tat dies keinen Abbruch.

Die Farben des Feuers beginnt mit einem Paukenschlag: Ein Kind stürzt 1927 aus einem Fenster, als der Trauerzug für den Großvater startet. Dieser war ein Mann der Finanzwelt, der sein Imperium der Tochter (der Mutter des schwerverletzten Kindes) überlässt. Madeleine wird folglich umschwärmt, umgarnt, getäuscht, betrogen, er-niedrigt ... und am Ende erweist sie sich als die Schlauere und Stärkere.

Wir lernen viel über Börsenspekulationen, Finanzkapital und Nationalismus, über mör-derische Buchhaltertypen und schreibende Karrieristen und Kinderschänder.

Nur wer Wir sehen uns da oben liest, erfährt, weshalb Madeleines Ex-Ehemann Henri im Gefängnis sitzt. Dieser hatte – so der Roman, der in zentralen Passagen auf in Frankreich verdrängten historischen Geschehnissen beruht – eine blendende Geschäftsidee, wie man heute sagen würde: Hunderttausende Leichen französischer Soldaten aus Schützengräben, Granattrichtern und Massengräbern einsammeln, wahllos einzeln in Billigsärgen begraben und mit wahllos aus den Totenlisten genommenen Namen versehen. Im Namen der privaten Trauer und der nationalen Erinnerung an den Großen Krieg.

Gleichzeitig rächen sich zwei ehemalige Frontsoldaten, die Henri d'Aulnay-Pradelle bereits im Schützengraben als feigen Vorgesetzten und ehrgeizigen Mörder kennengelernt hatten (diese Passagen erinnern in ihrem brutalen Realismus an Das Feuer von Barbusse), an der ob des Sieges sich selbst belügenden Nation und deren Obrigkeiten. Sie verkaufen auch dem letzten Provinznest – gegen Vorkasse! – Denkmäler vorwärtsstürmender Soldaten und Monumente des gloriosen Sieges. Ware, die niemals geliefert werden wird. Die eine Lüge fliegt auf, die andere zu spät.

Ruhm und Ehre, Profitgier und kriminelle Geschäfte. Auch manches Rätsel, das die eine oder andere Figur umgibt, löst sich nur auf, wenn man nach dem einen auch den anderen Roman liest – egal in welcher Reihenfolge.

Die Romane sind spannend, wahrhaftig, ja auch amüsant. Denn wie Lemaitre diese packende(n) Geschichte(n) erzählt, erinnert in seiner Leichtigkeit an Filme, von denen es heißt: Das kann nur französisches Kino sein.

 

September 2019

Fundstück: Negermusik

… Vielleicht hätte er sich von vornherein nicht mit Negern einlassen sollen. Es bescherte ihm eine merkwürdige Sicht der Dinge, und die wurde er nicht mehr los. Ein Faible für undisziplinierten Ausdruck, eine direkte, leidenschaftliche Herangehensweise, eine lautstarke Ungezwungenheit, die ihn in seinem späteren Umgang mit Menschen seiner eigenen Rasse letztlich nicht von Nutzen war, mit jenen, die von der Zivilisation zurechtgestutzt worden sind, sich beherrschen können und das spielen, was auf dem Blatt steht. Aber was er hätte tun oder nicht tun sollen, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung. …

(Dorothy Baker, Young Man with a Horn, 1938; dt.: Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft, dtv 2017)

 

September 2019

Unbekannt: Italiener in Abessinien

Alle, außer mir, der 2018 bei Wagenbach erschienene Roman von Francesca Melandri, ist ein schönes und dazu ein lehrreiches Buch. Nicht, weil es von einem äthiopischen Flüchtling und dessen Ankunft im Rom unserer Tage erzählt, sondern weil und wie es dessen Gegenüber – die 46jährige Ilaria und deren Geschwister – mit der Vergangenheit der Väter und des Landes konfrontiert.

Den langen Weg, die Angst und Not, den armseligen Empfang und das Verstecken im anderen Land kennen wir mittlerweile aus einigen guten Romanen über Flüchtlinge und Geflüchtete. Dieser ist anders. Melandris Konfrontation des Flüchtlings mit Ilaria stürzt diese in Verwirrung. Und zwingt die Römerin, auf die Suche zu gehen. Uns, den Lesenden, ermöglicht die Begegnung den Sprung zurück in die Geschichte Italiens. In die den meisten von uns unbekannten 30er, 40er und 50er Jahre, die auch Jahre des Kolonialismus und Postkolonialismus waren, und in denen viele Italiener – egal ob Offizier, Beamter, Ingenieur oder Arbeiter – ihr Glück in Abessinien, dem heutigen Äthiopien und Eritrea, suchten, teils fanden und auch wieder verloren. Mit der Macht der Gewalt, mit heimlicher oder offener Liebe. Mit Fleiß und Betrug. Und wir lernen fast beiläufig viel über die vierzig oder fünfzig Jahre danach, als die Italiener dort nicht mehr die Herren waren, aber manche dort blieben und viele erneut zurückkehrten. Sie wurden alt und viele wollten am Ende in Afrika begraben werden. Geradlinige und kurvenreiche Biografien, die Melandris Hauptfiguren aus Briefen, Fotos, Erzähltem, Vermutetem, geheimen Notizen und amtlichen Dokumenten zusammenfügen.

Ja, nicht nur Mussolini und seine Statthalter, auch Berlusconi der Ältere und Gaddafi der Tote werden uns von Francesca Melandri so vorgeführt, wie wir sie aus den Nachrichten nicht kennen. Und plötzlich begreifen wir so manchen Deal, der im Fernsehen mit aktuellen Bildern von libyschen Zeltlagern, den Überbleibseln gesunkener Boote und von strandenden Flüchtlingen illustriert wird, auch denen aus Äthiopien oder Eritrea.

Aber wir wussten ja bisher auch nicht von den Wohnungen, die der weitsichtige Vater vor zig Jahren im uralten Viertel Esquilin rund um Roma Termini gekauft hat. Vor einer dieser heute sehr begehrten Wohnungen sitzt Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti auf der Treppe und begrüßt die Tochter Attilio Profetis mit den Worten: "... dann bist du meine Tante".

 

September 2019

Fundstück: Ägypterinnen

... Ich könnte mir vorstellen, dass das Wort 'Ägypten' vor Ihrem geistigen Auge die Szene eines Fellachen erstehen lässt, der sich in der Abenddämmerung nach Hause schleppt, einen Spaten über der Schulter, während sein Sohn eine Kuh hinter sich herzieht. Tja, Ägypten ist ein Ort, an dem angejahrte Menschen Krocket spielen. Ich weiß nicht, warum Krocket plötzlich solchen Eindruck auf mich machte. Ich bin tausendmal an diesem Rasen vorbeigekommern, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Ich drehte mich um, setzte mich auf eine Bank und sah den Krocketspielern zu. Unter ihnen war jene Mimi, die meine Mutter vorhin erwähnt hatte. Unsere jungen Mimis und Tatas und Sousous werden alle erwachsen, heiraten und bekommen Kinder, auch ihre Kinder bekommen Kinder, aber immer noch sind sie die kleinen Mimis und Tatas und Sousous. Diese Mimi ist groß, hat Plattfüße und geht wie ein Kamel. (...) Zusammen mit den Tatas, den Sousous und meiner Mutter hat sie das französische pensionnat besucht. Zusammen mit den Chauffeuren habe ich als Junge meine Cousinen immer genau aus diesem pensionnat abgeholt. Das Institut war sehr streng, und man musste die Geheimnummer des Mädchens in ein kleines Loch flüstern, bevor die Tür – widerstrebend, wie ich fand – einen Spaltbreit geöffnet wurde, eine blasse Gestalt in einem schwarzen Kleid auftauchte und anfing, sich zu schminken, noch bevor sie den Wagen erreicht hatte ...

(aus: Waguih Ghali, Beer in the Snooker Club, 1964; deutsch: Snooker in Kairo, Verlag C.H.Beck, 2018)

 

September 2019

Mal etwas Kurzes

Nach den beiden Romanen (Wolkenschieber oder Drei Sommer am Cap, 2018, und: Das andere Land oder Siesta am Kanakenbunker, 2019) versuche ich mich in den kommenden Monaten an kürzeren Geschichten. Zum einen habe ich einige von mir bereits vor gut zwanzig Jahren geschriebene Texte wiederentdeckt – und ich finde diese gut, ja zum Teil erstaunlich schräg und amüsant. Zum anderen tausche ich mich regelmäßig mit einem Ex-Kollegen über das Schreiben aus. Dessen äußerst kurze, an Comics erinnernde Szenen faszinieren.

Die Vorteile und Herausforderungen der jeweiligen Form am konkreten Werk zu diskutieren, ist lehrreich. Zum Beispiel die Frage, ob und wie die äußere Form die innere Erzählung zusammenhält, oder die, welche Idee oder Szene unbedingt ein vorher oder nachher benötigt – ausgesprochen oder nicht. Welche Fantasie setzen die unterschiedlich geformten Texte frei? Bin gespannt.

 

September 2019

Wiederentdeckt: Iren überall

Beiläufig und nie in großen Worten, leise und manchmal auch mittels Auslassung erzählt William Trevor von einem Ur-Thema seines Landes und seiner Landsleute. Von dem Exodus, der Irland immer wieder erfasst hat. Aufgrund der Armut der Vielen und der Zukunftslosigkeit der Einzelnen. Wer wegging war weg, für immer und dann doch nicht. Dabei ist es egal, ob das bessere Leben in Dublin, in England, gar in London oder irgendwo jenseits des großen Teichs gesucht wurde. Die Scheidung war da. Die von hier und dort, von drinnen und draußen. Dass der Katholizismus und das Keltische, das Heimweh und die leeren Taschen, die ewige Liebe und die Entdeckung des Neuen immer wieder auf sehr verschiedene Weise im Widerstreit liegen, macht die erneute Lektüre der mehr als vierzig Erzählungen in diesem Band – Ein Traum von Schmetterlingen (Hoffmann und Campe, 2015) – zu einer wunderbaren Erfahrung.